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Uni-Journal Jena11/14
Neue Bücher
Porträt einer Migrantengeneration
Wie die Integration junger Zuwanderer in Deutschland und Israel gelingt
Aufstieg der Gotteskrieger
Wo der Islamismus seine Wurzeln hat
Aufklärung auf
Italienisch
Rund ein Fünftel der deutschen Bevölke-
rung hat ausländische Wurzeln. Eine der
größten Zuwanderergruppen sind die so-
genannten „Aussiedler“: deutschstäm-
mige Minderheiten aus der ehemaligen
Sowjetunion. Die Integration fällt einigen
nicht leicht, denn sie leben zwischen
zwei Kulturen mit unterschiedlichen ge-
sellschaftlichen Wertesystemen. Hinzu
kommen die idealisierten Hoffnungen
der zurückkehrenden Migranten an die
neue, alte Heimat und die hohen ge-
sellschaftlichen Erwartungen an ihre
soziale Integration. „Die meisten von
ihnen leben jedoch keineswegs am
Rand der Gesellschaft und kommen gut
in Deutschland zurecht“, sagt Prof. Dr.
Rainer K. Silbereisen. „Sie streben nach
ähnlich hohen beruflichen Zielen wie ihre
einheimischen Altersgenossen und für
viele Jugendliche ist die Migration eine
Chance für eine positive Entwicklung“,
konstatiert der Entwicklungspsychologe.
Silbereisen ist Mitherausgeber des
jüngst erschienenen Buches „The Chal-
lenges of Diaspora Migration. Interdisci-
plinary Perspectives on Israel and Ger-
many“. Es beleuchtet die Situation junger
Aussiedler in Deutschland sowie von
Zuwanderern aus der ehemaligen Sow-
jetunion in Israel im Vergleich zu ande-
ren ethnischen Minderheiten, wie etwa
Türkischstämmigen in Deutschland und
israelischen Arabern, sowie Einheimi-
schen. Schwerpunkt der Publikation ist
die psychosoziale Entwicklung während
wichtiger biographischer Übergänge von
der Kindheit bis ins Erwachsenenalter.
Das Buch basiert auf den Ergebnissen
des deutsch-israelischen Forschungsver-
bundes „Migration und gesellschaftliche
Integration“, in dem etwa 17000 Kinder
und Jugendliche in Deutschland und
Israel befragt worden sind. Das Buch
informiert über die Hintergründe der
Diaspora-Migration und zeichnet ein
detailliertes Porträt junger Migranten in
Deutschland und Israel.
Zudem halte es beiden Gesellschaften
den Spiegel vor, so Silbereisen: „Israel
versteht sich als Einwanderungsland,
das die Integration der unterschiedli-
chen Bevölkerungsgruppen erfolgreich
meistert. Doch die ethnischen Gruppen
leben räumlich stark voneinander ge-
trennt, was natürlich für sozialen Zünd-
stoff sorgt.“ In Deutschland hingegen
entscheide noch immer die Herkunft
maßgeblich über gesellschaftlichen Er-
folg. „Es wird noch einige Zeit dauern,
bis sich Deutschland seiner Multikultura-
lität wirklich bewusst wird“, sagt Rainer
Silbereisen.
ch
Einst dachte man an die schöne Sche-
herazade aus „Tausendundeine Nacht“
oder an weise Sultane und Wesire,
wenn vom Orient die Rede war. Inzwi-
schen besetzen Selbstmord-Attentäter
und zornige Gotteskrieger häufig die
Nachrichtensendungen. Nicht der ge-
heimnisvolle Orient bestimmt das Den-
ken, sondern die diffuse Angst vor dem
Kalifat, das Abu Bakr al-Baghdadi Ende
Juni 2014 ausgerufen hat.
Dem Phänomen des Islamismus
geht Prof. Dr. Tilman Seidensticker in
der aktuellen Publikation „Islamismus.
Geschichte, Vordenker, Organisationen“
nach. „Der fortwährende Bedeutungs-
verlust des Islam seit dem Ende des
,Goldenen Zeitalters‘ wird als Kränkung
empfunden“, sagt der Islamwissen-
schaftler. Immerhin beherrschten die
Muslime seit dem 8. Jahrhundert über
Jahrhunderte die Iberische Halbinsel bis
zu den Pyrenäen, während sich musli-
misch beherrschte Gebiete im Norden
bis an den Kaukasus, im Osten gar bis
in den Indischen Subkontinent und nach
Westturkestan erstreckten.
Die einstige Größe und die diffuse
Sehnsucht nach einem erneuten Auf-
stieg des Islam dienen den Islamisten
bis heute dazu, neue Anhänger zu ge-
winnen. Der Wissenschaftler definiert
Islamismus als
Bestrebungen zur
Umg e s t a l t u n g
von Gesellschaft,
Kultur, Staat oder
Politik anhand von
Werten und Nor-
men, die als isla-
misch angesehen
werden. Dabei
seien die Islamis-
ten innerhalb der
m u s l i m i s c h e n
Welt eine Minder-
heit, sagt Seiden-
sticker.
In seinem Buch
erläutert er die
Hauptströmungen
des politischen Is-
lams wieWahhabismus, Salafismus und
Muslimbrüder sowie deren wichtigste
Protagonisten. Dabei liegt der Fokus
auf dem historischen Kontext, wäh-
rend das tagesaktuelle Geschehen nur
beispielhaft erwähnt wird. Beschrieben
wird etwa der Aufstieg der Muslimbrü-
der in Ägypten, die 1928 durch den erst
23-jährigen Hasan al-Bannâ (1906-1949)
gegründet worden waren und die zu ei-
ner Massenbewegung insbesondere in
den Provinzstädten Ägyptens wurden. sl
„Die italienische Aufklärung
hatte eine erheblicheWirkung
auf das politische Denken im
Europa des 18. Jahrhunderts“,
sagt Prof. Dr. Thomas Kroll.
Meist werde das Zentrum
der Aufklärung in Frankreich
verortet, hinzu kommen noch
Deutschland oder auch Eng-
land. Aber Italien?
Der Historiker und sein
Münchner Kollege Frank Jung
sehen in Italien ein wichtiges
„Experimentierfeld der eu-
ropäischen Aufklärung“. Sie
sprechen von der „Zirkula-
tion der Ideen im Zeitalter
der Aufklärung“, eine These,
die zugleich Untertitel ihres
neuen Buches „Italien in Eu-
ropa“ ist.
Thematisch knüpfen die
versammelten Aufsätze an
die Arbeiten des italienischen Histori-
kers Franco Venturi an, der bereits in den
1950er Jahren die Außenwirkung der ita-
lienischen Aufklärer in Europa erforscht
hatte. Im Fokus stehen dabei Namen
wie Cesare Beccaria, Pietro Giannone
und Carlo Antonio Pilati – Aufklärer, die
vornehmlich in Mailand, Florenz und Ne-
apel wirkten.
sl
TilmanSeidensti-
cker:„Islamismus.
Geschichte,Vorden-
ker,Organisationen“,
VerlagC.H.Beck,
München2014,128
Seiten,8,95Euro,
ISBN978-3-406-
66069-6
RainerK.Silberei-
sen,PeterF.Titz-
mann,YossiShavit
(Hg.):TheChallenges
ofDiasporaMigra-
tion.Interdiscipli-
naryPerspectiveson
IsraelandGermany.
Ashgate,Farnham,
2014,354Seiten,ca.
80Euro,ISBN978-1-
4094-6424-2
FrankJung,Thomas
Kroll(Hg.):Italienin
Europa.DieZirku-
lationderIdeenim
ZeitalterderAufklä-
rung(Laboratorium
Aufklärung,Band
15),VerlagWilhelm
Fink,Paderborn2014,
316Seiten,39,90
Euro,ISBN978-3-
7705-5087-6