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Uni-Journal Jena11/14

FSU intern

„Die spannendste Zeit des Lebens“

Wie Dr. Ruth Kölblin den Neuanfang an der FSU mitgestaltet hat

Wissen Sie noch, wo Sie

waren, als am 9. November

1989 die Berliner Mauer

fiel?

Ich war in Freiburg i. Br.,

durfte zum 80. Geburtstag

meiner Tante in den Westen

fahren. Ich konnte es nicht

glauben – es war ein Wahn-

sinn, was da passierte; eine

richtige Befreiung für alle.

Hatten Sie 1989 Angst vor

einer „chinesischen Lö-

sung“, einem Blutvergießen

in der DDR?

Natürlich hatten wir Angst,

obwohl Gorbatschow viel

Hoffnung gebracht hat. Wir

hatten ja den Volksaufstand

am 17. Juni 1953 und dessen

Niederschlagung durch das

sowjetische Militär erlebt und

1968 den Einmarsch der Rus-

sen in die

Č

SSR. Deshalb ist

es für mich immer noch ein

Wunder, dass die sogenannte

Wende friedlich verlaufen ist.

Sie waren 12 Jahre lang

Vorsitzende des Personalrates der

Universität. Bitte beschreiben Sie uns

den Anfang Ihrer Arbeit. Sie wurden

doch ins kalteWasser geworfen, oder?

Die ersten Monate als Personalrats-

vorsitzende waren die anstrengendsten

und spannendsten in meinem Leben.

Wir standen vor gewaltigen Herausfor-

derungen und hatten keinerlei Erfahrung

als wir am 1. November 1990 die Arbeit

aufnahmen. Das Hochschulministerium

war erst in Gründung und es gab noch

kein Thüringer Personalvertretungsge-

setz. Wir arbeiteten zunächst nach dem

Bundespersonalvertretungsgesetz.

Große Unterstützung erfuhren wir vom

Personalrat der Universität Gießen, zu

dem fast der ganze Personalrat gefah-

ren ist. Wir informierten uns dort über

die Einrichtung des Personalratsbüros

und über viele Arbeitsgänge. Zum Glück

waren vier Mitglieder des Personalrats

für die umfangreiche Arbeit freigestellt

worden.

Worin bestanden die gewaltigen Her-

ausforderungen?

Zunächst mussten wir uns mit dem

Personalvertretungsgesetz vertraut ma-

chen. Die größte Belastung für uns alle

war die sogenannte Abwicklung. Uni-

versitätsleitung und Ministerium legten

fest, dass alle „ideologisch belasteten“

Bereiche der Universität aufzulösen

seien. Mit der Auswahl der Bereiche

wurde nach unserer Meinung über das

Ziel hinausgeschossen. Auf der „Ab-

schussliste“ standen u. a. neben der

Pädagogik, der Jura und der Psychologie

z. B. die Sportwissenschaft. Es war klar,

dass damit ein enormer Personalabbau

verbunden war. In allen Fakultäten sollte

Personal reduziert werden. Hinzu kam

ein enormer Zeitdruck.

Wie ist der Personalrat mit dieser Si-

tuation umgegangen?

Es ist faktisch eine Grundregel, dass

der Personalrat in der Regel keiner Kün-

digung zustimmt. Doch hier standen

hunderte Entlassungen an. Wir konnten

uns nicht generell der Abwicklung ver-

weigern, zumal es in der Tat Bereiche

gab, die eng mit dem politischen System

verbunden waren. Wir erarbeiteten Stel-

lungnahmen an die Universitätsleitung

und das Ministerium mit dem Ziel, bei

dem Prozess differenzierter vorzugehen.

Um die Personalreduzierung in den Fa-

kultäten zu erreichen, legte der Kanzler

Listen aller Mitarbeiter mit deren per-

sönlichen Daten vor, wie Alter, Sozialsta-

tus, Anzahl und Alter der Kinder, Dauer

der Beschäftigung. Dann diskutierten wir

mit ihm und den betroffenen Mitarbei-

tern stundenlang und erreichten dabei,

dass viele ältere Mitarbeiter entweder

bis zur Rente oder wenigstens mit dem

Arbeitslosengeld bis an die Rente heran-

kamen. Einige Wissenschaftler konnten

auf die Stellen von technischem Perso-

nal gesetzt werden und blieben so in

Arbeit. Fast alle Wissenschaftler hatten

ja unbefristete Verträge.

Also spielten soziale Aspekte eine

Rolle bei den Kündigungen?

Diese Aspekte waren ganz entschei-

dend. Öfter kamen Mitarbeiter zu mir

und schilderten ihre ganz persönlichen

gravierenden Probleme. Da ich einen

kurzen Weg zum Kanzler hatte, konnte

ich ihm die entsprechende Situation ver-

deutlichen und z. T. eine bessere Lösung

für den Betroffenen erreichen.

Wie schätzen Sie die Rolle von Kanz-

ler Klaus Kübel ein?

Ihm oblagen all die schwierigen Pro-

zesse, bei denen er trotz der schlim-

men Situation versuchte, besonnen

vorzugehen. Er zeichnete sich durch

menschliches Verständnis aus und nahm

stets Kontakt mit dem Personalrat auf.

Anfangs hatten wir große Sorge, ob er

uns als Partner akzeptieren würde, da

er über das Personalvertretungsgesetz

promoviert hatte und wir blutige Laien

waren. Doch unsere Sorgen waren un-

begründet: Er achtete uns als Partner

und nahm uns ernst.

Besonders schwierig war für ihn si-

cher der Umgang mit Stasi-belasteten

Mitarbeitern. Er reagierte beim Einge-

ständnis einer Mitarbeit für die Stasi z.

B. mit einer Verlängerung der Frist bis

zum Ausscheiden. Stritt allerdings ein

Mitarbeiter dieseTätigkeit ab, wurde ihm

seine Bereitschaftserklärung vorgelegt

und es gab da kein Entgegenkommen.

Waren die Stasi-belasteten Mitarbei-

ter besondere Fälle für Sie?

Für nachweislich belastete Mitarbeiter

setzten wir uns nicht ein. Heute, nach

so langer Zeit, bin ich geneigt, da etwas

milder zu urteilen, denn wer weiß unter

welchem enormen Druck die Leute oft

standen und wie man selbst in dieser

Situation gehandelt hätte.

Diese weitreichenden Entscheidun-

gen für die weiteren Lebenswege der

Mitarbeiter müssen Sie doch stark

belastet haben?

In der Tat gingen mir viele Schicksale

sehr nahe. Doch man soll versuchen,

das Machbare auch durchzusetzen. Es

wurde eine Personalkommission unter

Leitung von Prof. Bach eingerichtet, zu

der auch ich gehörte. Vor diese Kommis-

sion wurden alle Funktionsträger von

Partei, Gewerkschaft und sonstige aktive

SED-Mitglieder geladen und über ihren

Verbleib an der Universität entschieden.

Ich denke, die Mitglieder haben sich die

Entscheidung nicht leicht gemacht.

Meine christliche Einstellung war mir

in dieser schwierigen Zeit ein starker

Rückhalt. Ich denke, dass wir für viele

Mitarbeiter etwas erreichen konnten

und ohne den Personalrat die „Umset-

zung des Stellenplanes“ weit schmerzli-

cher verlaufen wäre.

Was würden Sie heutigen Studieren-

den mit auf denWeg geben?

Ich bin mir nicht sicher, ob eine sachli-

che Diskussion nicht von politisch-ideolo-

gischen Positionen überdeckt wird. Nach

meiner Erfahrung hat eine sachliche

Kritik und Diskussion in einem vertrau-

ensvollen Miteinander eher Aussicht auf

Erfolg. Es geht doch letztendlich um das

Wohl der gesamten Universität!

(Interview: Stephan Laudien)

Dr.RuthKölblin

(Jahrgang1940)

heute(oben)undzur

WendezeitalsVorsit-

zendedesimHerbst

1990gegründeten

PersonalratsderFSU

(unten).

DieBiologinhatte

zuvoralswissen-

schaftlicheAssis-

tentinamInstitut

fürMikrobiologie

gearbeitetundwar

alsMitgliedim

FreienDeutschenGe-

werkschaftsbundder

DDRinderFerien-

undKinderkommis-

siontätig.

HeutelebtDr.Ruth

KölblinalsRentnerin

inJena.

Fotooben:Kasper Fotounten:privat