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Uni-Journal Jena11/14
Position
Ende der 1980er Jahre war
die Versorgungslage in der
DDR ziemlich schlecht, wie
es der folgende Witz deutlich
macht: Ein Gast betritt ein
Wirtshaus und fragt: „Was
kann ich denn Schönes es-
sen?“ „Alles, was Sie gern
möchten.“ „Ich wette 100
Mark, dass ich das nicht
kann.“ „Die Wette gilt! Was
darf ich Ihnen bringen?“ „Ka-
melohr mit Zwiebeln.“ „Kein
Problem. Nur, das Kamel
muss erst beschafft werden.
Darf ich es Ihnen morgen servieren?“
„Selbstverständlich.“ Am anderen Tag
sieht der Gast schon von fern ein Ka-
mel, das am Eingang des Gasthauses
angebunden ist. Im Näherkommen be-
merkt er, dass dem Kamel beide Ohren
abgeschnitten sind. Er begrüßt den Wirt
und gesteht ein, die Wette verloren zu
haben. „Nein“, sagt der Wirt, „die Wette
haben Sie gewonnen, denn weit und
breit sind keine Zwiebeln aufzutreiben.“
Dennoch war es nicht in erster Li-
nie die wirtschaftliche Misere, die die
Menschen zu Zehntausenden über die
Grenze und auf die Straßen trieb, son-
dern der Wunsch nach elementaren
Freiheitsrechten und dem Ende einer
Unmündigkeit, die sich aus der kompro-
misslosen Durchsetzung des Dogmas
der führenden Rolle der Partei in allen
Lebensbereichen ergab.
Ideologische Bildungsmisere
Das traf auch auf den Bildungsbereich
zu. Wir Mathematiker stellten im Lauf
der 1980er Jahre fest, dass elementare
Grundkenntnisse der Neuimmatrikulier-
ten einen nie dagewesenenTiefstand er-
reicht hatten. Der Grund war klar: Schü-
ler, die das Abitur anstrebten, wurden
neuerdings erst von der 10. Klasse an
zusammengeführt. Da mindestens ein
halbes Jahr für eine notdürftige Niveau-
angleichung innerhalb einer Klasse und
etwa ein halbes Jahr für die Abiturvorbe-
reitung gebraucht wurden, blieb für die
Vermittlung neuen Wissens gerade mal
ein Jahr. Dies musste zur signifikanten
Absenkung des Abiturniveaus führen.
Eine Eingabe unseres Wissenschafts-
bereichs an den letzten Pädagogischen
Kongress der DDR brachte uns die Be-
lehrung ein, dass das ideologisch be-
gründete Ziel der Bildungsgerechtigkeit
(das nie erreicht worden ist) Vorrang vor
Qualitäts- und Niveauforderungen habe.
Was ist geblieben?
Prof. Dr. Gerd Wechsung über Hoffnungen aus dem Wendejahr 1989
An der damaligen Sektion Mathematik
fühlte ich mich als Wissenschaftler frei
insofern, als ich meine Vorlesungen, die
Lehrinhalte und die Forschungsthemen
selbst bestimmen konnte. In jeder Hin-
sicht beeinträchtigend und belastend
waren jedoch die ständige politische
Indoktrination und das Bestreben der
Partei, immer wieder Ergebenheitserklä-
rungen von Nichtgenossen einzufordern.
Ein Beispiel: Im August 1968 wurden wir
zu einer kleinen Versammlung eingela-
den. Der Parteisekretär sprach über die
„brüderliche Hilfsaktion der Staaten des
Warschauer Pakts“ in der
Č
SSR und er-
klärte zum Schluss, dass jeder, der die-
sen Aktionen nicht zustimmt, ein Feind
des Friedens und des Sozialismus sei.
Jeder der Anwesenden könne durch
seine Unterschrift unter eine vorberei-
tete Erklärung seine Zustimmung bekun-
den. Von den meisten war mir bekannt,
dass sie den Einmarsch als Verbrechen
betrachteten, aber wir fühlten uns unter
Zwang und fürchteten, dass wir und un-
sere Kinder bei einer Weigerung dafür
hätten büßen müssen. Jeder hat unter-
schrieben...
Jene Partei, die die führende Rolle
in allen gesellschaftlichen Bereichen
beanspruchte und mit dem Marxismus-
Leninismus über das unangreifbare
Wahrheitsmonopol verfügte, konnte
nicht erwarten, dass unabhängige Geis-
ter sich ihr anschließen würden. Wir ver-
abscheuten es, dass sie uns permanent
belog, durch die Stasi beobachtete, uns
hinter Stacheldraht mit Todesstreifen
hielt, eine rücksichtslose Klassenjustiz
ausübte und unliebsame Landeskinder
an die Bundesrepublik verkaufte – muss-
ten dies aber jahrelang verdrängen. Nö-
tigungen jedoch wie die oben geschil-
derte, die regelmäßig zu persönlichen
Demütigungen wurden, konnte man
nur wenige ertragen, ohne zu einem er-
bitterten Gegner dieser Partei und ihres
Staates zu werden.
Wen wundert es unter diesen Um-
ständen, dass 1989 sehr viele Uni-An-
gehörige aktiv an der Beseitigung der
SED-Herrschaft teilgenommen haben.
Unser Ziel war ein Neuanfang in Frei-
heit, nachdem alle Reste marxistisch-
leninistischer Bevormundung beseitigt
worden waren. Es wurde sorgfältig
darauf geachtet, dass die „schärfsten“
SED-Genossen ihre leitenden Stellun-
gen aufgeben mussten. Die FSU hat
als eine der ersten Universitäten des
Ostens ihre Chance zum Neuanfang
beherzt ergriffen und hat sich zu einer
konkurrenzfähigen Bildungseinrichtung
entwickelt. Uns Ostdeutschen kam der
Umstand sehr gelegen, dass wir uns
einem gut funktionierenden Staat ein-
fach anschließen konnten, weil dessen
Grundgesetz in weiser Voraussicht den
Fall einer zukünftigenWiedervereinigung
ausdrücklich vorgesehen hatte.
Gelungener Neuanfang
Was bei diesem Neuanfang ausdrück-
lich als gelungen bezeichnet werden
kann, ist uns allen längst zur Selbst-
verständlichkeit geworden: Bevormun-
dungen und ideologisch determinierte
Erpressung sind nicht mehr vorstellbar.
Wissenschaftler müssen ihre internati-
onalen Kontakte nicht mehr von einer
herrschenden Partei verbieten oder ge-
nehmigen lassen.
Dieses hohe Gut kann uns nicht mehr
genommen werden. Andere Erwartun-
gen, die wir mit dem Neuanfang ver-
knüpft haben und die sich nicht erfüllt
haben, können mit den Mitteln der
Demokratie erkämpft werden. Freilich
ist eine wirkliche Demokratie extrem
schwerfällig. So hat sich die Hoffnung,
ein neues unideologisches Schulsystem
in Freiheit könnte effizienter sein als das
alte, bisher als trügerisch erwiesen.Wie-
der wird zwar der Leistungssport nach
vernünftigen Kriterien gefördert, aber
das, worauf es der Gesellschaft ankom-
men müsste, nämlich ein Optimum von
Bildung und Wissensvermittlung in den
Schulen, wird allein nach altbekannten
ideologischen Kriterien behandelt und
hat eine Menge Verbesserungspotenzial.
Eingriffe von außen in universitäre
Belange waren noch niemals von ir-
gendwelchem Nutzen. Heute denkt
man dabei in erster Linie an die Zwänge
des Bolognaprozesses und an die For-
schungsförderungspolitik von Bund und
Ländern. Die übertriebene Bürokratie
und der Kräfteverschleiß auch an For-
schungskapazität, die mit den Exzel-
lenzinitiativen verbunden sind, stehen
in keinem Verhältnis zu den erreichten
Ergebnissen. Übermäßige Spezialisie-
rungen bergen die Gefahr in sich, dass
die Breite einer alltäglichen universi-
tären Forschung eingeschränkt wird.
Ohne eine solche Breite aber wäre es
niemals zu unserer zivilisatorischen Ent-
wicklung gekommen. Deshalb bleibt die
Verfügbarkeit vonWissen aus möglichst
vielen Disziplinen auch für die zukünftige
Entwicklung eine unabdingbare Voraus-
setzung.
Prof.Dr.GerdWech-
sung(Jg.1939)warseit
1970Dozent,seit1980
Professorundab1992
ProfessorfürTheore-
tischeInformatikder
Friedrich-Schiller-
Universität.Von1990-
93warerProrektor
fürMathematik,
Naturwissenschaft
undTechnikderUni-
versitätundgehörte
zudenPersonen,die
dieSelbsterneuerung
derUniversitätund
dieEvaluierungen
nachder„Wende“we-
sentlichgestalteten.
ZudemwarWech-
sungpolitischaktiv,
u.a.alsMitglieddes
„Demokratischen
Aufbruchs“.
Foto:Kasper