39
Uni-Journal Jena04/15
Interview
Dem Leid des anderen begegnen
Martin Leiner über Konflikt- und Versöhnungspotenzial von Religionen
Im Sommer besteht das „Forschungs-
zentrum für Versöhnung“ der FSU
zwei Jahre. Haben Sie den Eindruck,
dass dieWelt in dieser Zeit „versöhn-
ter“ geworden ist?
Ich bin der Auffassung, dass sich viele
Konflikte eher zugespitzt haben: In der
Ukraine, in Syrien und Nordafrika, aber
auch in Israel und Palästina sind die Zei-
chen nicht unbedingt vielversprechend.
Hinzu kommen auch Ereignisse wie
die Anschläge von Paris zu Jahresbe-
ginn oder jüngst in Tunesien: Welche
Rolle spielen Religionen, wenn es
heute irgendwo zu bewaffneten Aus-
einandersetzungen kommt?
Leider spielen Religionen oft eine den
Konflikt verschärfende Rolle. Manchmal
haben die Täter direkt religiöse Motive,
manchmal ist es auch so, dass die Re-
ligion benutzt wird, um Konflikte anzu-
heizen und Gegensätze der beteiligten
Gruppen herauszuarbeiten.
Wäre die Welt ohne Religion dann
nicht friedlicher?
Nein, das glaube ich nicht. Denn: Reli-
gionen haben ja auch einen friedensför-
dernden Ansatz. Schauen Sie sich den
Buddhismus an, das Christentum, das
Judentum, den Islam. Überall heißt es,
dass der Mensch, der sich der Religion
widmet, in Frieden mit seinen Nachbarn
leben und die Religion mit demWort und
durch Überzeugungskraft verbreiten soll
und nicht mit Gewalt. Außerdem muss
man sich vor Augen halten, dass die
großen Gewaltkonflikte des 20. Jahrhun-
derts gar nicht religiös motiviert waren:
der Erste und Zweite Weltkrieg, der Ko-
reakrieg oder der Bürgerkrieg in Ruanda.
Das waren keine religiösen Konflikte.
Was lässt sich denn überhaupt gegen
die Folgen von Krieg und Gewalt tun?
Welchen Ansatz verfolgen Sie mit
demVersöhnungszentrum?
Versöhnungsforschung ist ein in-
novatives Gesamtkonzept, das unter-
schiedliche Ansätze wie Konflikttrans-
formation, Vergangenheitsaufarbeitung,
Traumaarbeit, Transitional Justice und
andere Zugänge vereinigt. Es geht da-
rum, wieder zu besseren Beziehungen
miteinander zu kommen, innerhalb einer
Gesellschaft, aber auch zwischen Ge-
sellschaften. Eine wichtige Rolle spie-
len dabei oft symbolische Handlungen,
wie etwa der Kniefall Willy Brandts im
Warschauer Ghetto, der zur Versöhnung
von Polen und Deutschen entscheidend
beigetragen hat. Wichtig sind aber auch
Versuche, die Erinnerung an die kriegeri-
sche Vergangenheit wach zu halten und
immer wieder das Bedauern darüber
auszudrücken.
Der zentrale Konflikt, mit dem Sie
sich im Rahmen des Versöhnungs-
zentrums befassen, ist der Nahost-
konflikt.Wie schätzen Sie die Chance
auf Versöhnung zwischen Israel und
Palästina aktuell ein?
Ich denke, dass momentan der po-
litische Wille bei der Regierung Israels
fehlt, Frieden zu schaffen und eine klare
Zweistaatenlösung zu akzeptieren. Die
einzige Hoffnung in dieser Situation ist,
dass sich aus der Zivilgesellschaft heraus
Gruppen bilden, die genug haben von
Konflikten und die sich zusammenschlie-
ßen über die politischen und religiösen
Grenzen hinweg und deutlich machen:
Wir wollen diese Konflikte nicht mehr,
wir protestieren gegen diese Politik, die
den Konflikt verschärft und verlängert.
WelchenAnsatz verfolgen Sie dabei in
IhremVersöhnungsprojekt?
Wir versuchen, Orte und Wege der
Versöhnung zu schaffen, um dadurch
diese langgewachsene Konfliktstruk-
tur aufzubrechen. Und das geht z. B.
so, dass wir Begegnung möglich ma-
chen, die das Leiden der jeweils ande-
ren Gruppe zeigen: Israelis besuchen
Flüchtlingslager der Palästinenser und
sehen, wie es den Menschen dort geht.
Und Palästinenser fahren nach Ausch-
witz und machen sich ein Bild von dem
Grauen. Unser Ziel ist, dass beide Seiten
einen menschlichen Zugang zum jeweils
anderen wiederfinden und sich von den
gängigen Stereotypen lösen.
Mit welchem Erfolg?
Da muss man sehr differenzieren.
Zum einen hat Mahmud Abbas, der pa-
lästinensische Präsident, drei Wochen
nach der Exkursion der palästinensi-
schen Jugendlichen nach Auschwitz den
Holocaust anerkannt und damit seine
frühere Position klar revidiert. Das ist ein
Erfolg, der auch mit unserem Projekt in
Verbindung steht. Auf der anderen Seite
hat sich nach dem Besuch in Auschwitz
auf Druck von palästinensischen Extre-
misten die Leitung der Al-Quds Universi-
tät in Jerusalem von diesem Projekt und
dem beteiligten Professor, Mohammed
Dajani Daoudi, distanziert. Das zeigt, wie
tief gespalten auch die palästinensische
Gesellschaft ist.
Im Rahmen Ihres Versöhnungspro-
jekts ist gemeinsam mit den Partnern
in Palästina eine Doktorandenschule
eingerichtet worden, die erste pa-
lästinensische überhaupt. Welche
Bedeutung hat die Förderung von
Nachwuchswissenschaftlern in die-
sem Konflikt?
Für junge Palästinenser ist es bislang
praktisch unmöglich, in ihrer Heimat zu
promovieren, denn keine der Universitä-
ten in Gaza oder der Westbank hat das
Promotionsrecht. Insofern bieten wir
hier eine völlig neue Möglichkeit. Die
Doktorandenschule ist eine Kooperation
mit demWasatia-Institut, wobei die Pro-
motion selbst an der FSU erfolgt. Das
heißt, die Doktoranden machen eine
Zeit dort ihre Ausbildung und kommen
dann auch ein oder zwei Jahre nach
Jena und Professoren aus Jena wer-
den auch in Ost-Jerusalem lehren. Und
das Interesse ist sehr groß. Es ist eine
Chance nicht nur für die Doktoranden
selbst, sondern auf längere Sicht auch
für die Gesellschaft. Wenn wir vor Ort
Nachwuchswissenschaftler haben, die in
Fragen der Versöhnungsforschung, der
Konfliktbewältigung bewandert sind und
auchWissen über Ethik und Religion ha-
ben, dann gibt es irgendwann eine Elite
von Menschen, die in der Region eine
positive Rolle spielen werden.
(Interview: Axel Burchardt und Ute
Schönfelder)
Prof.Dr.Martin
Leiner,Professor
fürSystematische
TheologieundEthik,
istSprecherdes
ZentrumsfürVer-
söhnungsforschung
derUniversitätJena.
Dasvollständige
Interviewmitihmist
nachzulesenunter:
www.uni-jena.de/ versoehnung.html.Foto:Kasper
JungePalästinenser
besuchenimMärz
2014dasKonzentra-
tionslagerAuschwitz.
Foto:Leiner