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Uni-Journal Jena04/15
Religiosität hat mit Gefühl zu tun
Dr. Sabine Nagel ist Hochschul- und Studierendenpfarrerin
Eine promovierte Mathematikerin als
Pfarrerin? Eine ungewöhnliche Kombina-
tion, die Dr. Sabine Nagel in ihrer Person
vereint. Was bewegte die heute 63-Jäh-
rige, sich vor 15 Jahren um das Amt als
Hochschul- und Studierendenpfarrerin
der 1946 gegründeten Evangelischen
Studierendengemeinde (ESG) Jena zu
bewerben?Was bringt eine solcheTätig-
keit mit sich, welche Aufgaben nimmt
sie wahr? Fragen, die neugierig machen
auf die Frau, der weder die mathemati-
sche noch die theologische Laufbahn in
die Wiege gelegt wurden.
Diese stand in dem kleinen Dorf
Reuth bei Plauen. Ihre Großmutter sei
eine religiöse Frau gewesen, ihre Eltern
hätten ein religiöses Grundvertrauen
gehabt und dieses weitergetragen, er-
innert sich Dr. Nagel bei grünem Tee in
ihrem „Amtssitz“ in der August-Bebel-
Straße. Dennoch: Theologie war nach
dem Abitur in Plauen kein Thema. Sozi-
alwissenschaften hätte sie gern studiert,
aber derartige Angebote waren zu DDR-
Zeiten überschaubar. Sie entschied sich
für die Mathematik. „Nur Lehrerin wollte
ich nicht werden“, macht sie noch heute
entschieden deutlich.
Der Weg zur „reinen Mathematik“
führte sie 1970 zunächst an die Techni-
sche Universität Dresden und später,
„als die Stochastik ins Spiel kam und das
Interesse erst wirklich stark wurde“, an
die Bergakademie Freiberg. Dort promo-
vierte Sabine Nagel nicht nur. Sie lernte
auch ihren Mann kennen, heiratete und
schenkte zwei Kindern das Leben, die
sie in den ersten vier Jahren selbst er-
zog.
Inzwischen in
Kunitz bei Jena
zu Hause, nahm
sie eine befristete
Stelle an der da-
maligen Sektion
Mathematik der
Universität an. Die
geplante Entfris-
tung jedoch ging
einher mit einem
wie sie sagt, „Ab-
schiebeangebot“
nach der Devise,
die Offerte anneh-
men zu müssen,
weil sie keine Al-
ternative habe.
Diese jedoch hatte
sich für sie peu à
peu durch Pfarrer
im Freundeskreis
und die beim Bau des Kunitzer Gottes-
hauses enger werdende Beziehung zur
Kirche aufgetan: Ein Jahr vor der Wende
in der DDR immatrikulierte sich die Ma-
thematikerin für ein Studium der Evan-
gelischen Theologie an der Alma Mater
Jenensis, dem das Vikariat und 1995 die
Ordination folgten. Schöne Seiten kann
Dr. Nagel ihren beiden Berufungen ab-
gewinnen. „In der Mathematik ist es
der vorgegebene, abstrakte Rahmen, in
dem man sich bewegt; in der Theologie
spielen immer auch die Menschen eine
große Rolle.“
So wundert es nicht, dass die junge
Frau neben dem Studium als Studienlei-
terin für den Bereich Naturwissenschaft,
Ethik und Gesellschaft an der Evangeli-
schen Akademie Thüringen arbeitete.
Begeistert und doch mit Bedacht erzählt
Sabine Nagel von den Vorträgen, Begeg-
nungen und kontroversen Diskussionen
damals, etwa über die nachhaltige Ent-
wicklung weltweit, über Gentechnik und
verschiedene Schulformen. „Wir waren
alle auf der Suche und es gab neue The-
men, die in Ost und West gleich waren
außer denen, die nach '89 im Osten an-
standen.“
Seit damals läuft bei Dr. Sabine Nagel
vieles immer wieder parallel: Ihre Arbeit
am Projekt „Selbstbildung und Neuori-
entierung im Lebenslauf“ am Lehrstuhl
für Erwachsenenbildung und im DFG-
Projekt „Die Evangelischen Akademien
im Osten Deutschlands von 1945 bis
1989/90 – Orte allgemeiner und politi-
scher Bildung zwischenWiderstand und
Anpassung“. Auch Religionsunterricht
hat sie erteilt und sich 2000 auf die frei
werdende Stelle als Studierendenpfarre-
rin beworben – mit Erfolg.
„Es gibt als Pfarrerin nichts Schöne-
res, als in einer Studentengemeinde zu
wirken“, meint sie rückblickend. „Man ist
immer dran an den neuesten Problemen
in Wissenschaft und Gesellschaft, weil
im Kontext der Forschung die aktuellsten
Themen sozusagen in der Luft liegen.“
Besonders junge Menschen wollten
mehr denn je Glaubensfragen diskutie-
ren. „Religiosität hat mit einem Gefühl
für das zu tun, was hinter den Dingen
ist, mit der Suche nach dem, was uns
im ureigensten Sinn angeht“, betont sie.
Da gehe es nicht in erster Linie um die
katholische oder die evangelische Kir-
che. Den Dialog zwischen den Kirchen
hält sie für unumgänglich und fügt an, in
Jena funktioniere die Ökumene auf allen
Ebenen gut und nennt als ein Beispiel
den ökumenischen Beirat Hochschulen
und Kirchen, dessen Mitglied sie ist.
Vielfältiges Arbeitsspektrum
Ihr Arbeitsspektrum ist breit gefä-
chert, reicht von Gottesdiensten, Tau-
fen, Trauungen und Trauerfeiern, über
Tauf- und Glaubenskurse für junge Er-
wachsene bis hin zu seelsorgerischen
Gesprächen bei persönlichen Proble-
men sowie in schwierigen Situationen,
vor die sich Menschen gestellt sehen.
„Diese Gespräche sind natürlich vertrau-
lich und nicht nur kirchlich Gebundenen
vorbehalten“, erläutert Dr. Sabine Nagel.
Als ein wichtiges Feld sieht sie das Bera-
ten und Betreuen ausländischer Studie-
render, für die sie z. B. auch Stipendien
organisieren kann und die im Gegenzug
im Rahmen des gemeinsamen Semes-
terprogramms der Katholischen und der
Evangelischen Studentengemeinde über
ihre Heimat berichten. Derzeit betreut
sie vier Stipendiaten – eine Kolumbiane-
rin, einen Syrer und zwei Palästinenser
mit israelischer Staatsangehörigkeit, der
eine Christ, der andere Muslim.
In ihrer Gemeinde sei jeder willkom-
men, „der die Würde des Anderen res-
pektiert“, ganz gleich, ob Christ, Muslim,
Jude oder Atheist, Schwarz oder Weiß,
homosexuell oder die tradierte Vorstel-
lung von Familie lebend. Es sei wichtig,
über den eigenenTellerrand zu schauen,
sich Neuem zu öffnen. „Das Kopftuch ei-
ner Lehrerin beunruhigt mich nicht, wohl
aber alles, was die Grenze überschreitet
und im Namen einer Weltanschauung
Gewalt sät.“
Uschi Lenk
„DasBedürfnisnach
WissenüberdieRe-
ligionenistdaund
nimmtzu“,stelltDr.
SabineNagelfest.
Die63-Jährigeistseit
15JahrenHochschul-
undStudierenden-
pfarrerinderFSU
undplädiertneben
demEthik-auchfür
Religionsunterricht
andenSchulen.
Foto:Günther
Porträt