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Uni-Journal Jena07/15
Freiheit in der Wissenschaft bedeutet für mich, dass ich mich
jederzeit mit Themen beschäftigen kann, die sich aktuell erge-
ben, genauso aber auch mitThemen, die für mich aus anderen
Gründen interessant sind. Besonders wertvoll ist dabei, dass
dem Nachdenken keine Grenzen gesetzt sind und sich die
Überlegungen nicht daran
orientieren müssen, was
in einem etwaigen politi-
schen Prozess umsetzbar
sein könnte. Auch die wis-
senschaftliche Debatte ist
von diesem Verständnis
geprägt. Die Erkenntnisse
können für den Moment
realitätsfern erscheinen
und sich doch später als
sehr wertvolle Vorarbeiten
erweisen.
Selbst als die Grenzen
noch weitgehend ge-
schlossen waren, war es
wichtig und richtig, sich mit den Folgen von mehr Freizügigkeit
für das Steuer- und Transfersystem oder das Bildungssystem
zu beschäftigen. Und die Auswirkungen einer alterdenden
Gesellschaft für die Rentenversicherung waren schon in der
wissenschaftlichen Debatte präsent, als die Baby-Boomer ge-
rade erst in den Arbeitsmarkt eingetreten waren. Wenn es um
die Diskussion in der Öffentlichkeit geht, dann versuche ich
allerdings, die Erkenntnisse so zu kommunizieren, dass die
gegenwärtige Meinungslage und das gegenwärtige Umfeld
berücksichtigt werden. Manchmal ist es hilfreich, in kleineren
Schritten vorzugehen, ohne das größere Ziel aus den Augen
zu verlieren. Aber diese Freiheit habe ich ja!
Vor zehn Jahren begann ich
meinen Jugendtraum zu
verwirklichen, die psycholo-
gischen Grundlagen der visu-
ellen Ästhetik zu erforschen.
Meine akademische Karriere
hatte ich bis dahin in der Mo-
lekularen Neuroembryologie
gemacht. Den Mut und die
Freiheit dazu, etwas Neues
und Ungewöhnliches anzu-
fangen, hatte ich erst, als ich
eine Dauerstelle als Instituts-
leiter innehatte und damit
wissenschaftlich weitgehend
unabhängig war. Hätte ich von
Anfang an über diesesThema
gearbeitet, wäre meine wis-
senschaftliche Karriere wegen Voreingenommenheit kollegialer Gremien
und mangelnder Förderung schnell beendet gewesen.
Die Abhängigkeit vom Zeitgeist zeigt sich auch an anderer Stelle. Es
werden hierzulande Forschungsgebiete dann besonders großzügig geför-
dert, wenn sie von möglichst vielenWissenschaftlern bearbeitet werden
(universitäre Schwerpunkte, Gruppenanträge und Impact-Faktor-Kult =
viel Publikum). Wer in einem solchen System Erfolg haben will, muss
dem Zeitgeist folgen und mit der großen Welle schwimmen. Die große
Welle ist aber meist wenig originell und überrollt gern Forschungsan-
sätze, die im Entstehen begriffen sind. Ein Forschungsthema ist nicht un-
bedingt dann vielversprechend, wenn sich möglichst viele Forscher davon
Förderung versprechen. Im Gegenteil, wenn herkömmliche Breitenfor-
schung Ressourcen von innovativen Einzelinitiativen abzieht, schadet das
der Wissenschaft. Einzelne innovative Wissenschaftler sollten deshalb
besonders gefördert werden – lange bevor sie in fortgeschrittenem Alter
einen Lehrstuhl erhalten.
Die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre gehört zu den fun-
damentalen Werten unserer Gesellschaft. Artikel 5 des Grundgesetzes
erwähnt diese Freiheit in einem Atemzug neben der Meinungsfreiheit
und den Medienfreiheiten, was die Bedeutung dieses Grundrechts un-
terstreicht. Nach dem Bundesverfassungsgericht umfasst der rechtlich
gewährleistete Freiheitsraum „die auf wissenschaftlicher Eigengesetz-
lichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei
dem Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung undWeitergabe“. Jeder
in Wissenschaft, Forschung und Lehre Tätige hat danach – vorbehaltlich
der Pflicht zur Verfassungstreue – ein Recht auf Abwehr staatlicher Ein-
wirkung auf den Prozess der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftli-
cher Erkenntnisse. Ausdrücklich geschützt sind auch Mindermeinungen,
Forschungsansätze und -ergebnisse, die sich möglicherweise ex post als
irrig oder fehlgeleitet erweisen, ebenso wie unorthodoxe oder intuitive
Methoden. Die Freiheit der Wissenschaft kann nicht nur durch direkte
Interventionen, sondern auch
durch schleichende Prozesse
beeinträchtigt werden, die
darauf hinauslaufen, Wissen-
schaft in Korsette zu schnü-
ren. Gefährdungen können
etwa von einer zunehmenden
Verbürokratisierung, einer
Verengung von Studienin-
halten, einer Verkürzung der
Bildungs- undWissenschafts-
finanzierung oder einer Öko-
nomisierung von universi-
tären Leistungsparametern
ausgehen. Ein Gegensteuern
ist schwierig, verlangt Mut
und – auf vielen Seiten – ei-
nen Mentalitätswandel.
Eine Freiheit der Wis-
senschaft gab und
gibt es so wenig wie
eine wertfreie Wis-
senschaft. Wissen-
schaft als soziales
System ist immer Teil
einer Gesellschaft
und von Traditionen,
Machtverhältnissen
und Zukunftsvisionen
abhängig. Unter Um-
ständen können ein-
zelne Wissenschaft-
ler oder Gruppen frei
genug sein, um mit Emphase und geschärften Blicken jene
Strukturen und Prozesse zu analysieren, die die Welt zusam-
menhalten und vorantreiben. Aber Erkennen ist kein individuel-
ler Prozess; es ist eine soziale Tätigkeit. Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler sind Mitglieder sozialer Gruppen, die
nicht selten in Definitionskämpfe verwickelt sind und deren
Traditionen, Werte, Arbeits- und Denkstile auch das individu-
elle Forschen beeinflussen. Dabei geht es nicht nur umWahr-
heit oder Objektivität; manchmal auch nur um Karriere und
Prestige. Aus diesen Gründen werden auch schon mal „Er-
kenntnisse“ gefälscht oder abgeschrieben. Paul Feyerabend
meint, man könne sich auf die Wissenschaftler einfach nicht
verlassen. „Sie haben ihre eigenen Interessen, …sie wissen
nur sehr wenig, geben aber vor, weitaus mehr zu wissen, sie
verwenden Gerüchte, als handele es sich um wohlbestätigte
Tatsachen... selbst die sehr detaillierten Forschungsergeb-
nisse beruhen auf Annahmen, die dieWissenschaftler oft nicht
kennen und deren Inhalt und Reichweite sie nicht verstehen.“
(Erkenntnis für freie Menschen. Suhrkamp, 1980)
Position
Prof. Dr. Dr. Christoph Redies,
Lehr-
stuhl für Anatomie I
Foto:Scheere
Prof. Dr. Christian Alexander, Lehrstuhl für
Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und
Medienrecht
Foto:Kasper
Prof. Dr. Silke Übelmesser, Lehrstuhl für
Finanzwissenschaft
Foto:Günther
Prof. Dr.Wolfgang Frindte, Professur
für Kommunikationspsychologie
Foto:Günther