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Uni-Journal Jena04/15
Forschung
Unschuldig mit Schuld beladen
Historiker beleuchten das Schicksal von Besatzungskindern in Deutschland
Vor 70 Jahren kamen die
Alliierten als Befreier und
Besatzer nach Deutschland.
Soldaten der Roten Armee,
französische, englische und
amerikanische Truppen be-
endeten in mörderischen
Kämpfen den Zweiten Welt-
krieg. Dabei kam es auch zu
massiven Übergriffen auf die
deutsche Zivilbevölkerung.
Weihnachten 1945 kamen die
ersten der vom Feind gezeug-
ten Kinder zur Welt.
„Die Besatzungskinder
wurden nach dem Krieg lange
beschwiegen“, sagt Prof. Dr. Rainer Gries
von der Universität Jena. Gemeinsam
mit Prof. Dr. Silke Satjukow (Universität
Magdeburg) hat er das Schicksal dieser
Kriegskinder untersucht und eine kollek-
tive Biographie geschrieben (Foto).
In allen vier Zonen, so die Histori-
ker, seien Frauen vergewaltigt worden.
Bis zu zwei Millionen Gewaltnahmen
werden allein den Soldaten der Roten
Armee zur Last gelegt. Die Wissen-
schaftler gehen daher von mindestens
300 000 Kindern aus, die durch sowje-
tische Soldaten gezeugt wurden. Aber
auch französische und US-amerikanische
Einheiten vergewaltigten in großer Zahl.
Hinzu kamen abertausende Kinder, die
aus Liebesbeziehungen zwischen deut-
schen Frauen und ausländischen Sol-
daten hervorgingen. Insgesamt gab es
mindestens 400000 Besatzungskinder,
eine größere Zahl ist nicht auszuschlie-
ßen. Sie alle hatten ein schweres Los zu
tragen: In der Bevölkerung, ja selbst in
den Familien, galten sie als „Bankerte“,
als unerwünscht und illegitim.
„Die Kinder wurden drangsaliert, weil
sie in den Augen der Gesellschaft Schuld
auf sich geladen hatten“, sagt Silke Sat-
jukow. Von diesen „Kindern der Sünde“
wurde daher Zeit ihres Lebens verlangt,
dass sie ihre vermeintliche Schuld sühn-
ten. Die Mütter erhielten zudem keinen
Unterhalt, denn Angehörige der Besat-
zungsmächte unterlagen nicht der deut-
schen Gerichtsbarkeit. Eine Ausnahme
bildeten die Franzosen: Die Kinder fran-
zösischer Soldaten galten als Staats-
bürger der Grande Nation; sie sollten
in Frankreich und in den französischen
Kolonien zur Adoption freigegeben wer-
den. Mindestens 1500 Kinder fanden so
den Weg über den Rhein.
Heute stehen die Kinder von einst vor
der immer gleichen Frage: „Wer ist mein
Vater?“ Die meisten Betroffenen fühlen
sich buchstäblich halbiert, unvollständig.
„Sie wollen endlich ihre ganze Familie
und ihren Frieden finden“, so Silke Sat-
jukow. Doch die Väter in Russland, den
USA oder in Frankreich haben zumeist
geheiratet und eine Familie gegründet.
Sie aufzuspüren ist äußerst schwierig. sl
SilkeSatjukow,
RainerGries:
„Bankerte!“Besat
zungskinderin
Deutschlandnach
1945,CampusVer-
lag,Frankfurt/New
York2015,29,90
Euro,ISBN:978-593-
50286-1
Warum Firmen nicht aus Fehlern lernen
Studie untersucht Kundenbeschwerden im Dienstleistungssektor
Über solche Vorkommnisse hat sich
wohl jeder schon einmal geärgert: Die
Mobilfunkrechnung weist Unstimmigkei-
ten auf, im Restaurant wird das falsche
Essen serviert oder das Hotelzimmer ist
nur unzureichend gesäubert. Als selbst-
bewusster Kunde macht man dann
in der Regel seinem Ärger
bei einem Servicemitarbei-
ter Luft. Doch was passiert
dann? Analysieren Unterneh-
men die Beschwerden unzu-
friedener Kunden, um daraus
zu lernen und die Dienstleis-
tungsqualität zu verbessern?
Weit gefehlt, wie eine Stu-
die von Wirtschaftswissen-
schaftlern jetzt zeigt. „Drei
von vier Beschwerden, die
an Dienstleistungsmitarbeiter
herangetragen werden, errei-
chen nicht einmal den direk-
ten Vorgesetzten“, sagt Prof.
Dr. Gianfranco Walsh. Die
Gründe dafür hat der Marke-
tingexperte gemeinsam mit
Kollegen aus Jena und Texas
untersucht und im„Journal of
Service Research” publiziert
(DOI: 10.1177/1094670514555510).
In seiner Studie hat dasWissenschaft-
lerteam 363 deutsche und 213 chinesi-
sche Mitarbeiter mit häufigem Kunden-
kontakt befragt. Die Studienergebnisse
überraschen: „Entgegen der bisherigen
Annahme, dass jobspezifische Res-
sourcen, etwa die Unterstützung durch
den Vorgesetzten, das Erreichen von
Unternehmenszielen unterstützen und
Arbeitsplatzbelastungen die selbige
beeinträchtigen, zeigen unsere Ergeb-
nisse, dass es bei der Weiterleitung von
Beschwerden nicht zwangsläufig so sein
muss“, so Prof. Walsh.
Kulturelle Unterschiede
Die Wissenschaftler konnten zeigen,
dass jobspezifische Belastungen und
Ressourcen in Deutschland stärkeren
Einfluss haben als in China. „Dienst-
leistungsangestellte in westlichen
Kulturen reagieren empfindlicher auf
Arbeitsplatzaspekte wie die Unterstüt-
zung durch den Vorgesetzten oder die
Unfreundlichkeit von Kunden als in eher
kollektivistisch geprägten Gesellschaf-
ten“, erklärt Prof. Walsh. Kulturunab-
hängig zeigte sich die Bereitschaft, Be-
schwerden weiterzuleiten, vor allem bei
den Mitarbeitern, die sich als besonders
kundenorientiert wahrnehmen und mit
ihrem Unternehmen identifizieren. US
DenWegzumVor-
gesetztenfinden
Servicemitarbeiterim
FallevonKundenbe-
schwerdennursel-
ten,wieeineaktuelle
Studiezeigt.
Foto:Kasper
Kontakt:Prof.Dr.GianfrancoWalsh
Tel.:03641/943110,E-Mail
:walsh@uni-jena.deKontakt:apl.Prof.Dr.RainerGries
Tel.:03641/944503,E-Mail:rainer.gries@uni-
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