Rubrik 57
01 | LICHT
GEDANKEN
Und sie hat für verschiedene medizi-
nische und wirtschaftliche Anwen-
dungen diagnostische, therapeutische
und auch kommerzielle Implikatio-
nen. Nicht zuletzt die vielfachen (De-)
Regulierungsdebatten haben biowis-
senschaftliche Zukunftstechnologien
in den letzten drei Jahrzehnten in
Deutschland zu einem Medienthema
gemacht. Daher kann hier die Kommu-
nikationswissenschaft nicht nur auf
reichhaltige Medienberichte zurück-
greifen, sondern auch auf eine Vielzahl
beteiligter Akteure. Wir haben nicht
nur beteiligte Wissenschaftler und
Kommunikatoren, sondern auch Jour-
nalisten und die Rezipienten befragt.
Die entsprechenden Aussagen und
Medieninhalte haben wir ebenfalls
systematisch qualitativ und quantita-
tiv analysiert.
Im Rahmen Ihrer Untersuchung wur-
de eine Skala entwickelt, die das Wis-
senschafts- und Evidenzverständnis
der Empfänger erfasst. Wie funktio-
niert sie?
Von unseren Landauer Kollegen im ge-
meinsamen Projekt wurde eine Item-
Batterie entwickelt, die ermittelt, ob
Probanden wissenschaftliche Erkennt-
nisse tendenziell eher als stabil und
eindeutig oder als vorläufig und wi-
dersprüchlich wahrnehmen. Die Ska-
la wurde vor der Feldstudie parallel
in deutscher und englischer Sprache
entwickelt und sowohl in den USA als
auch in Deutschland getestet.
Sie haben ein Modell entwickelt, das
die verschiedenen Erwartungen und
Bewertungen der einzelnen Akteure
darstellt. Demnach übermitteln Wis-
senschaftler und Kommunikatoren
aus Industrie, Umwelt- und Verbrau-
cherschutz ihre Informationen auf
Grundlage von Erwartungen. Was
sind das für Erwartungen und wie
unterscheiden sich diese bei Wissen-
schaftlern und Journalisten?
Grundsätzlich sind Wissenschaftler
im Vergleich mit Journalisten eher
dazu bereit, die Ungesichertheit wis-
senschaftlicher Befunde darzustellen.
Dies gilt aber nicht für Kontroversen
– hier sind es die Journalisten, die na-
turgemäß einen höheren Nachrichten-
wert erkennen. Beide Akteursgruppen
wollen, stellen sie Ungesichertheit dar,
dass ihr Publikum darüber informiert
und kritischer gegenüber Forschungs-
ergebnissen wird. Dennoch äußern
Wissenschaftler auch die Sorge, dass
Journalisten durch eine Betonung
der Ungesichertheit das Interesse am
Thema verlieren könnten. Journalis-
ten wiederum (und im Kontrast dazu)
hoffen, durch die Darstellung von un-
gesicherten Aspekten Interesse beim
Publikum zu wecken.
Welche Schlussfolgerungen lassen
sich aus den Ergebnissen ableiten?
Können sich daraus eventuelle Hand-
lungsanleitungen für alle Akteure er-
geben?
Die Befunde lassen sich kaum in we-
nigen Worten zusammenfassen. Wir
können aber festhalten: Die öffentliche
Wahrnehmung von wissenschaftlicher
Evidenz in Politik und Medien hat gera-
de erst begonnen. Die beteiligten Wis-
senschaftler, Kommunikatoren, Journa-
listen und Rezipienten operieren dabei
mit ihren ganz spezifischen Rationalitä-
ten und Zielen. Daher können sie jeweils
auch spezifische Schlussfolgerungen
ziehen: Die Wissenschaft kann noch
deutlicher über ihre Evidenzkriterien,
die eine methodologische Errungen-
schaft und Qualität sui generis darstel-
len, kommunizieren. Die Kommunika-
toren der Privatwirtschaft könnten sich
einer Diskussion über konfligierende
und fragile wissenschaftliche Evidenz
öffnen. Wissenschaftsjournalisten kön-
nen im Sinne einer Qualitätsorientie-
rung die Evidenzkriterien der Wissen-
schaft umfassender recherchieren und
darstellen. Und Rezipienten können
lernen, dass Wissenschaft nicht die Ver-
kündung ewiger Wahrheiten darstellt.
Original-Publikation
Guenther L and Ruhrmann G (2016) Scienti-
fic evidence and mass media: Investigating
the journalistic intention to represent scien-
tific uncertainty. Public Understanding of
Science, DOI: 10.1177/0963662515625479Kontakt
Prof. Dr. Georg Ruhrmann, Dr. Lars Günther,
Dr. Sabrina Heike Kessler
Institut für Kommunikationswissenschaft
Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena
Telefon: 03641 / 944930
E-Mail:
georg.ruhrmann@uni-jena.de lars.guenther@uni-jena.de sabrina.kessler@uni-jena.de www.ifkw.uni-jena.deIm Bild links: Die Kommunikationswissenschaftler
Prof. Dr. Georg Ruhrmann, Dr. Sabrina Heike Kessler
und Dr. Lars Günther (v. r.).
Bei der Suche nach Lösungen praktischer Probleme oder der Prävention krisenhafter Lagen
fordert die Öffentlichkeit Antworten aus der Wissenschaft ein. Wissenschaftlich basierte Ant-
worten entstehen in einem kontinuierlichen Diskussions- und Revisionsprozess. Wie dieser
Prozess in den Medien dargestellt und in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, damit hat
sich das Schwerpunktprogramm 1409 »Wissenschaft und Öffentlichkeit: Das Verständnis
fragiler und konfligierender Evidenz« der Deutschen Forschungsgemeinschaft befasst. Das
von 2009 bis 2016 an den Universitäten Jena und Landau über drei Bewilligungsperioden ge-
förderte Teilprojekt untersuchte u. a. den Einfluss von Journalisten und PR auf die mediale
Berichterstattung, ihre Formen und Inhalte sowie ihre Wirkungen auf die Einstellungen und das
Wissenschaftsverständnis von Laien.
H I N T E R G R U N D