Background Image
Previous Page  23 / 60 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 23 / 60 Next Page
Page Background

S C HW E R P U N K T

23

01 | LICHT

GEDANKEN

können. Und diese Grundverheißungen

treiben Wissenschaft und Politik schon

seit jeher an. Ich glaube, davon können

wir nicht lassen.

Und wohin wird uns der Beschleuni-

gungs- und Steigerungsprozess dann

führen?

Das kommt darauf an: Entweder wir

enden in einem kompletten Desaster,

etwa wenn eine globale Naturkatastro-

phe über uns hereinbricht oder sich eine

gefährliche Krankheit rasend schnell

um den gesamten Globus verbreitet.

Oder die Steigerungsentwicklung wird

gestoppt durch weltweit vernetzte

Protestbewegungen oder solche Orga-

nisationen wie den sogenannten Islami-

schen Staat. Das halte ich aber für un-

wahrscheinlich, zumindest langfristig,

weil diese Organisationen selbst nach

genau den gleichen Steigerungsmecha-

nismen funktionieren und mit ihnen

operieren. Dann könnte sich natürlich

die Menschheit auch besinnen und aus

diesem Steigerungsmodus ausbrechen,

aber das wird – wie wir alle wissen –

nicht so leicht.

Gibt es keine Alternative?

Doch, es gibt auch eine vierte Möglich-

keit und die besteht darin, dass wir

den Menschen umbauen. Schließlich

sind wir Menschen das maßgebliche

Beschleunigungshindernis. Wir sind

einfach zu langsam und überfordert.

So wie wir jetzt sind, kriegen wir es,

trotz aller Einsicht, nicht hin, das Nach-

haltigkeitsproblem oder weltpolitische

Probleme zu lösen. Wir müssten daher

den Menschen mittels Computertech-

nik »aufrüsten«. Das passiert ja im

Grunde bereits: Man kann heute schon

bestimmte Stoffwechselprozesse über

Chips steuern und irgendwann, da bin

ich mir sicher, wird der Chip von der

Virtual-Reality-Brille auch direkt im

Gehirn implantierbar sein. Ich könnte

mir durchaus vorstellen, dass durch

solche neuen Formen von compu-

tertechnologischer Vernetzung auch

neue Formen von Subjektivität und

Intersubjektivität entstehen, die dann

ganz neue Resonanztechniken ermög-

lichen. Transhumanistische Fantasien

sind mir nicht mehr fremd (

lacht

).

Könnten wir die Krisen nicht auch

nutzen?

Natürlich sollte man eine Krise im-

mer auch als Chance begreifen. Was

ich im Moment aber wahrnehme, ist

eine extreme Sklerotisierung – eine

Versteinerung – der gesellschaftlichen

Verhältnisse, die mit einer Lähmung

einhergeht. Und das scheint sich durch

die Krisen noch zu verstärken.

Wie äußert sich das?

Das lässt sich derzeit ganz besonders in

ländlichen, strukturschwachen Regio-

nen sehen, in weiten

Teilen

Ostdeutsch-

lands etwa, und be-

sonders in Mittel-

und Osteuropa. Dort

gibt es kaum Kinder,

kaum junge Leute,

wer gebildet ist, geht

in den Westen oder in

große Städte. In die-

sen Gegenden kann

man den Niedergang

direkt sehen: Schu-

len schließen, Läden

schließen, Dienstleis-

ter verschwinden, die

Krankenversorgung

wird

ausgedünnt,

ebenso der Nahver-

kehr. Was diese Ge-

genden

dringend

brauchen, ist eine Re-

vitalisierung. Und die

ist nur durch Zuzug möglich. Aber ge-

rade dort wehren sich die Menschen am

vehementesten gegen den Zuzug, etwa

von Flüchtlingen. Stattdessen wird ver-

sucht, Zäune zu bauen, um sich mög-

lichst effektiv abzuschotten. Die Fra-

ge ist, ob die aktuellen Krisen da eine

Dynamisierung reinbringen und neue

Funken schlagen können.

Wer ihre Bücher liest, weiß, ein ande-

rer Weg wäre es, mit der Welt in eine

Resonanzbeziehung zu treten.

Ja, doch dafür müssten wir die Skleroti-

sierung erst einmal wieder aufbrechen.

Ein resonantes Weltverhältnis zu ha-

ben, bedeutet, sich von anderen errei-

chen, bewegen und berühren zu lassen.

Es bedeutet, auf diese Berührung so zu

antworten, dass sich beide Seiten trans-

formieren. Im Falle der Flüchtlingskri-

se etwa würde das für uns heißen, den

Zuzug nicht nur zuzulassen, sondern

auch bereit zu sein, uns zu verändern –

in unserer Wertebasis, in dem, was wir

sind, und in dem, was wir sein wollen.

Was sind Voraussetzungen für eine

solch resonante Weltbeziehung?

Die Bereitschaft zur Veränderung. Und

das gilt für Individuen wie Gesellschaf-

ten gleichermaßen. Sich auf eine Reso-

nanzbeziehung einzulassen, bedeutet,

sich verwundbar und

verletzlich zu ma-

chen. Weil man sich

öffnet, ohne vorher

genau zu wissen, was

dabei herauskommt.

Also es gehört eine

gewisse Angstfreiheit

dazu.

Zum Schluss: Was

heißt »global den-

ken, lokal handeln«

für Sie persönlich?

Ich glaube, dass man

dort, wo man lebt,

versuchen sollte, Be-

ziehungen aufzubau-

en und Räume zu

schaffen, in denen

man sich begegnen

kann. Man sollte sich

auf lokale Beziehun-

gen auf lange Frist einlassen, um so

Resonanzachsen zu schaffen. Für mich

heißt das: Seit ich hier in Jena bin – seit

2005 – habe ich mich noch nie an einer

anderen Uni beworben. Ich wollte noch

nie weggehen, obwohl ich durchaus

Angebote gehabt hätte. Das konfligiert

natürlich mit diversen globalen Anfor-

derungen: Ich bekomme täglich Einla-

dungen zu Vorträgen und ähnlichem

von überall her. Das ist meine persön-

liche Weltreichweite und es ist natür-

lich auch für mich attraktiv, diese zu

vergrößern und das tue ich auch. Aber

ich versuche, das auszubalancieren

durch lokale Rückbindung. Ich glaube,

sonst geht man unter. Man verliert sei-

ne Kreativität als Wissenschaftler und

seinen Anker als Mensch.

Cover des aktuellen Buches von

Hartmut Rosa.