S C HW E R P U N K T
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01 | LICHT
GEDANKEN
können. Und diese Grundverheißungen
treiben Wissenschaft und Politik schon
seit jeher an. Ich glaube, davon können
wir nicht lassen.
Und wohin wird uns der Beschleuni-
gungs- und Steigerungsprozess dann
führen?
Das kommt darauf an: Entweder wir
enden in einem kompletten Desaster,
etwa wenn eine globale Naturkatastro-
phe über uns hereinbricht oder sich eine
gefährliche Krankheit rasend schnell
um den gesamten Globus verbreitet.
Oder die Steigerungsentwicklung wird
gestoppt durch weltweit vernetzte
Protestbewegungen oder solche Orga-
nisationen wie den sogenannten Islami-
schen Staat. Das halte ich aber für un-
wahrscheinlich, zumindest langfristig,
weil diese Organisationen selbst nach
genau den gleichen Steigerungsmecha-
nismen funktionieren und mit ihnen
operieren. Dann könnte sich natürlich
die Menschheit auch besinnen und aus
diesem Steigerungsmodus ausbrechen,
aber das wird – wie wir alle wissen –
nicht so leicht.
Gibt es keine Alternative?
Doch, es gibt auch eine vierte Möglich-
keit und die besteht darin, dass wir
den Menschen umbauen. Schließlich
sind wir Menschen das maßgebliche
Beschleunigungshindernis. Wir sind
einfach zu langsam und überfordert.
So wie wir jetzt sind, kriegen wir es,
trotz aller Einsicht, nicht hin, das Nach-
haltigkeitsproblem oder weltpolitische
Probleme zu lösen. Wir müssten daher
den Menschen mittels Computertech-
nik »aufrüsten«. Das passiert ja im
Grunde bereits: Man kann heute schon
bestimmte Stoffwechselprozesse über
Chips steuern und irgendwann, da bin
ich mir sicher, wird der Chip von der
Virtual-Reality-Brille auch direkt im
Gehirn implantierbar sein. Ich könnte
mir durchaus vorstellen, dass durch
solche neuen Formen von compu-
tertechnologischer Vernetzung auch
neue Formen von Subjektivität und
Intersubjektivität entstehen, die dann
ganz neue Resonanztechniken ermög-
lichen. Transhumanistische Fantasien
sind mir nicht mehr fremd (
lacht
).
Könnten wir die Krisen nicht auch
nutzen?
Natürlich sollte man eine Krise im-
mer auch als Chance begreifen. Was
ich im Moment aber wahrnehme, ist
eine extreme Sklerotisierung – eine
Versteinerung – der gesellschaftlichen
Verhältnisse, die mit einer Lähmung
einhergeht. Und das scheint sich durch
die Krisen noch zu verstärken.
Wie äußert sich das?
Das lässt sich derzeit ganz besonders in
ländlichen, strukturschwachen Regio-
nen sehen, in weiten
Teilen
Ostdeutsch-
lands etwa, und be-
sonders in Mittel-
und Osteuropa. Dort
gibt es kaum Kinder,
kaum junge Leute,
wer gebildet ist, geht
in den Westen oder in
große Städte. In die-
sen Gegenden kann
man den Niedergang
direkt sehen: Schu-
len schließen, Läden
schließen, Dienstleis-
ter verschwinden, die
Krankenversorgung
wird
ausgedünnt,
ebenso der Nahver-
kehr. Was diese Ge-
genden
dringend
brauchen, ist eine Re-
vitalisierung. Und die
ist nur durch Zuzug möglich. Aber ge-
rade dort wehren sich die Menschen am
vehementesten gegen den Zuzug, etwa
von Flüchtlingen. Stattdessen wird ver-
sucht, Zäune zu bauen, um sich mög-
lichst effektiv abzuschotten. Die Fra-
ge ist, ob die aktuellen Krisen da eine
Dynamisierung reinbringen und neue
Funken schlagen können.
Wer ihre Bücher liest, weiß, ein ande-
rer Weg wäre es, mit der Welt in eine
Resonanzbeziehung zu treten.
Ja, doch dafür müssten wir die Skleroti-
sierung erst einmal wieder aufbrechen.
Ein resonantes Weltverhältnis zu ha-
ben, bedeutet, sich von anderen errei-
chen, bewegen und berühren zu lassen.
Es bedeutet, auf diese Berührung so zu
antworten, dass sich beide Seiten trans-
formieren. Im Falle der Flüchtlingskri-
se etwa würde das für uns heißen, den
Zuzug nicht nur zuzulassen, sondern
auch bereit zu sein, uns zu verändern –
in unserer Wertebasis, in dem, was wir
sind, und in dem, was wir sein wollen.
Was sind Voraussetzungen für eine
solch resonante Weltbeziehung?
Die Bereitschaft zur Veränderung. Und
das gilt für Individuen wie Gesellschaf-
ten gleichermaßen. Sich auf eine Reso-
nanzbeziehung einzulassen, bedeutet,
sich verwundbar und
verletzlich zu ma-
chen. Weil man sich
öffnet, ohne vorher
genau zu wissen, was
dabei herauskommt.
Also es gehört eine
gewisse Angstfreiheit
dazu.
Zum Schluss: Was
heißt »global den-
ken, lokal handeln«
für Sie persönlich?
Ich glaube, dass man
dort, wo man lebt,
versuchen sollte, Be-
ziehungen aufzubau-
en und Räume zu
schaffen, in denen
man sich begegnen
kann. Man sollte sich
auf lokale Beziehun-
gen auf lange Frist einlassen, um so
Resonanzachsen zu schaffen. Für mich
heißt das: Seit ich hier in Jena bin – seit
2005 – habe ich mich noch nie an einer
anderen Uni beworben. Ich wollte noch
nie weggehen, obwohl ich durchaus
Angebote gehabt hätte. Das konfligiert
natürlich mit diversen globalen Anfor-
derungen: Ich bekomme täglich Einla-
dungen zu Vorträgen und ähnlichem
von überall her. Das ist meine persön-
liche Weltreichweite und es ist natür-
lich auch für mich attraktiv, diese zu
vergrößern und das tue ich auch. Aber
ich versuche, das auszubalancieren
durch lokale Rückbindung. Ich glaube,
sonst geht man unter. Man verliert sei-
ne Kreativität als Wissenschaftler und
seinen Anker als Mensch.
Cover des aktuellen Buches von
Hartmut Rosa.