Lichtgedanken 05

Rubrik 41 05 | LICHT GEDANKEN Feldpost an Professor Cartellieri Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg, der auch an der Universität Jena tiefe Narben hinterließ. Drei von vier Studenten hatten ihr Studium unterbrochen und kämpften als Soldaten. Über 400 von ihnen kehrten nicht zurück. An ihr Schicksal erinnern vier große Gedenktafeln im Innenhof des Universitätshauptgebäudes. 15. April 1917, irgendwo in Russland. Die Einheit von Hans Müller kämpft seit Tagen gegen die russischen Vertei- diger, deren Nation vom Ende der Za- renherrschaft erschüttert ist. Plötzlich steigen russische Infanteristen weiße Tücher schwenkend aus ihren Gräben und nähern sich dem Drahtverhau der kaiserlichen Armee. Die Deutschen be- greifen schnell: Ihre Gegner beabsichti- gen, mit ihnen das Osterfest zu feiern. Müller fühlt sich wie in einen »kind- lichen Traum« versetzt: Die Soldaten werfen einhellig ihre Waffen zu Boden und reichen sich die Hände. Leider ist dieser Moment des Friedens nur von kurzer Dauer. Die russische Artillerie feuert auf ihre eigenen Truppen und zwingt die Soldaten dazu, die Gefechte fortzusetzen. Der bemerkenswerte Bericht von Hans Müller ist Teil einer Sammlung von Feldpostbriefen, die Studenten aus dem Kriegseinsatz an den Jenaer Professor Alexander Cartellieri schickten. Der konservative Historiker bewahrte die Dokumente auf und ließ den Absendern im Gegenzug Süßigkeiten und kleine Geschenke zukommen. Heute befinden sich die Briefe in der Thüringer Univer- sitäts- und Landesbibliothek. Bei den Briefen handelt es sich umwich- tige Zeitzeugnisse, denn sie berichten aus erster Hand von einem Krieg, an dem drei von vier der zwischen 1914 und 1918 an der Universität einge- schriebenen Männer teilnahmen. Unter anderem erzählen sie von den Grau- samkeiten des Kampfes, den Strapazen des Marschierens oder dem Zeitvertreib zwischen den Einsätzen. Vor allem be- legen die Briefe, dass das Fronterlebnis ganz unterschiedlich wahrgenommen wurde: Ernst Bischof behauptet etwa, noch nie »eine reinere, tiefere Freude« empfunden zu haben als im Schützen- graben. Begeistert erzählt er von seinen heroischen Taten. Nach einem Bom- beneinschlag bleibt er als einziger Offi- zier seines Bataillons am Leben und hält es für eine »göttliche Fügung«. Aus den Worten Heinrich Simons, der in Frankreich eingesetzt wurde, spricht dagegen Ernüchterung. Als er auszog, habe er »von Schlachten und Stürmen, vom Kampf Mann gegen Mann« ge- träumt. Die Realität sei ein Leben mit der Angst, als »Kanonenfutter« zu en- den. Lehrbetrieb war während der Kriegsjahre stark eingeschränkt An der Universität Jena blieben die jun- gen Soldaten weiterhin immatrikuliert, um den Schein eines funktionierenden Betriebs zu wahren. Tatsächlich war die Universität in den Jahren des Krieges stark eingeschränkt. Veranstaltungen entfielen und die allgemeine Ressour- cenknappheit sorgte dafür, dass die Mittel für Heizung, Beleuchtung und Laborverbrauch gestrichen wurden. Dieser Zustand änderte sich erst nach der Niederlage Deutschlands und dem Ende des Ersten Weltkriegs am 9. No- vember 1918, einem Datum, das zu- gleich den Übergang von der Monarchie zur Demokratie der Weimarer Republik markiert. Die realen Studierendenzah- len stiegen wieder und Universitätsre- formen wurden auf den Weg gebracht. Auf die politischen Auseinandersetzun- gen, die mit diesen Reformen einhergin- gen, hatten die verschiedenen Kriegs- erlebnisse und -deutungen, die in den Briefen zum Ausdruck kommen, eine starke Wirkung. Das Kriegsende im Jahr 1918 kam für über 400 Studenten zu spät. Von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs kehrten sie nicht wieder nach Jena zu- rück. Die Gedenktafeln, die im Innenhof des Universitätshauptgebäudes ange- bracht sind, erinnern noch heute an ihr Schicksal. Das Kalenderblatt TEXT: TILL BAYER Gedenktafeln erinnern an die Jenaer Studenten, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben verloren.

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