Lichtgedanken 04

Rubrik 45 04 | LICHT GEDANKEN Reich? Und weshalb traf die Schauerge- schichte vom »Monster« Lüdke in der Bundesrepublik den Nerv des Publi- kums? Diesen und weiteren Fragen sind Dr. Axel Doßmann und Prof. Dr. Susanne Regener nachgegangen. »Fabrikation ei- nes Verbrechers. Der Fall Bruno Lüdke als Mediengeschichte« heißt ihr kürz- lich veröffentlichtes Buch. Darin klä- ren der Historiker von der Universität Jena und die Kulturwissenschaftlerin von der Universität Siegen über Krimi- nalität, Gewalt und rassistische Men- schenbilder im 20. Jahrhundert auf und das spannend wie in einer Detektivge- schichte. Die Argumente der Forschung erhalten durch die besondere Buchge- staltung von Markus Dreßen eine wei- tere Reflexionsebene; hier werden den Leserinnen und Lesern viele Quellen direkt und beziehungsreich vor Augen geführt: Tatortfotos, Verhörprotokolle, eine Büste Lüdkes von 1944, Geheim- dokumente, Filmplakate und Zeitschrif- tenartikel der 1950er Jahre. Bruno Lüdke war NS-Opfer und kein Massenmörder Susanne Regener stieß bereits in den 1990er Jahren auf Bruno Lüdke. Für ihre Habilitationsschrift besuchte sie die Polizeihistorische Sammlung in Berlin und ging der Frage nach, welche gesell- schaftliche und kulturelle Bedeutung »Verbrecherfotos« sowie ausgestellte Artefakte wie ein Handabguss Bruno Lüdkes haben. Der Kriminalfall Bruno Lüdke macht die Fabrikation von Menschenbildern und Vorstellungen vom Bösen deutlich. So legen die Indizien nahe, dass rangho- he Nazis aus dem Reichssicherheits- hauptamt den Fall Lüdke als Vorwand nutzen wollten, um ein neues sozialras- sistisches Gesetz gegen die sogenannten Gemeinschaftsfremden auf den Weg zu bringen. »Damit wäre es legal gewor- den, alle unangepassten Deutschen zu verfolgen und sie zu ermorden«, sagt Axel Doßmann. Als geisteskranker Massenmörder hätte Bruno Lüdke die passende Folie für dieses Gesetz gelie- fert. Zweifel melden Regener und Doßmann auch in Bezug auf bisherige Thesen zur Ermordung Lüdkes an. Mit hoher Wahrscheinlichkeit starb Bruno Lüdke infolge eines Experiments mit vergif- teter Munition. Ziel dieser »Geheimen Reichssache« war es, Attentate auf hoch- rangige Politiker zu erproben. »Zwei- fellos war Bruno Lüdke ein NS-Opfer und kein Massenmörder«, konstatiert Axel Doßmann. »Doch nicht allein die Nazis, auch die bundesdeutsche Pres- se und Justiz haben Mitverantwortung am Mythos Serienkiller: Vor 60 Jahren, am 17. April 1958, hatte das Hamburger Oberlandesgericht die Fake News vom Massenmörder juristisch sanktioniert.« Bereits Mitte der 1990er Jahre hatte der niederländische Kriminalist Jan A. Blaauw in akribischer Kleinarbeit nachgewiesen, dass Lüdke wohl keine einzige der ihm zur Last gelegten Ta- ten begangen haben kann. Das Buch von Doßmann und Regener beleuchtet diesen Kriminalfall jetzt in seinen histo- rischen und medienwissenschaftlichen Dimensionen und lässt dabei Parallelen bis in die Gegenwart erkennen. Denn geistig behinderte Menschen und ande- re Außenseiter geraten auch heute noch unschuldig allzu leicht in die Mühlen von Strafverfolgung und Justiz. Kontakt Dr. Axel Doßmann Historisches Institut Fürstengraben 13, 07743 Jena Telefon: +49 36 41 9-44 483 E-Mail: axel.dossmann@uni-jena.de www.histinst.uni-jena.de Bibliografische Angaben: Fabrikation eines Verbrechers. Der Krimi- nalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte, Spector Books, Leipzig 2018, ISBN 987-3-95905-034-0 »Fake News« der Nachkriegszeit: Der Jenaer Histo- riker Dr. Axel Doßmann und die Siegener Kulturwis- senschaftlerin Prof. Dr. Susanne Regener haben den Kriminalfall Bruno Lüdke und die anschließende Me- dialisierung des Bösen neu bewertet: Der vermeint- liche Serientäter war ein Opfer der NS-Kripo und der Mediendemokratie der 1950er Jahre. Hier zu sehen das Cover der aktuellen Publikation. Bild links: Im Berliner Polizeimuseum fanden sich zahlreiche Materialien zum Fall des vermeintlichen Serientäters Bruno Lüdke.

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