Lichtgedanken 03
Rubrik 74 Wer schwerelos durch den Raum schweben möchte, muss nicht eigens zur ISS fliegen. Das Phänomen lässt sich ebenso auf einem Parabelflug erleben. Die Europäische Weltraum agentur ESA bietet die Flüge gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) vom französischen Bordeaux aus an. Geflogen wird im Dienste der Wissenschaft oder der Neugier, denn gelegentlich können auch Touristen einen Parabelflug buchen. »Die Schwerelosigkeit setzt von jetzt auf gleich ein, da gibt es keinen Übergang«, sagt Prof. Dr. Markus Rettenmayr. Vor- sicht sei geboten, unbedachte Bewegungen können schnell zu heftigen Stößen führen, fügt der Wissenschaftler vom Ot- to-Schott-Institut für Materialforschung hinzu. Wer etwa bei einsetzender Schwerelosigkeit auf dem Boden des Flugzeugs hockt und sich wie üblich aufzurichten versucht, knallt mit dem Kopf gegen die Decke. Nicht von ungefähr sind vier Hel- fer und ein Arzt mit an Bord, zudem ist die Decke des Fliegers sicherheitshalber gepolstert. Im vergangenen Sommer hat Rettenmayr seinen ersten Para- belflug absolviert – es war wohl auch sein letzter. Nicht weil es ihm nicht gefallen hätte, sondern eher, weil die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Forschungsprojekt ebenfalls das Ge- fühl der Schwerelosigkeit erfahren möchten. Rettenmayr und sein Team untersuchen während der Flüge, wie geschmolzene metallische Legierungen kristallin oder glasartig wieder er- starren. Der Einfluss der Gravitation soll dabei möglichst aus- geschaltet werden. Zum Einsatz kommen hochempfindliche Messgeräte, mit denen die Viskosität, die Wärmeleitfähig- keit und die Erstarrungsgeschwindigkeit gemessen werden. »Diese Experimente werden später auf der ISS wiederholt«, sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter Robert Hanke. Die Parabelflüge sind Voraussetzung für die Experimente in der Raumstation. Langfristiges Ziel ist ein möglichst exaktes Mo- dell für das Erstarrungsverhalten metallischer Legierungen. Bei den Parabelflügen kommt die ehemalige Kanzlermaschi- ne der Bundeswehr zum Einsatz, ein Airbus A 310. Wo früher Angela Merkel mit ihrer Entourage saß, stehen heute die Ap- paraturen für diverse Experimente. Dazu gibt es ein Gurtsys- tem, um schwebend nicht komplett die Kontrolle zu verlieren. Lediglich im Heck des Flugzeuges gibt es noch Sitze. »Es fühlt sich an wie seekrank, nur schlimmer!« Vor dem Flug nehmen die Passagiere ein Medikament gegen Motion Sickness ein, eine Form der Reisekrankheit: »Es fühlt sich an, als wäre man seekrank, nur schlimmer«, sagt Prof. Rettenmayr. Kopfschmerz, Übelkeit, Erbrechen zählen zu den Symptomen – früher wurden die Parabel-Flieger deshalb als »Kotzbomber« bezeichnet. Nach dem Start in Bordeaux geht es erst einmal hinaus aufs offene Meer. Für die Parabelflüge wird eine möglichst ruhige Zone gesucht. Dann beschleu- nigen die Piloten den Airbus auf zwei g, also die doppelte Erdbeschleunigung, und ziehen die Nase des Flugzeugs in einen Steigwinkel von 50 Grad. Nach dem Steigflug werden die Triebwerke gedrosselt, das Flugzeug folgt der Linie ei- ner Wurfparabel, dabei wird für 22 Sekunden annähernd die Schwerelosigkeit erreicht. Danach kippt das Flugzeug wieder in die Horizontale, worauf ein Sturzflug folgt. Dabei gehen die Piloten hart an die Grenzen des Flugzeugs, sagt Markus Ret- tenmayr: »Diese Flugmanöver erfordern höchstes Geschick.« Nicht von ungefähr besteht die Crew aus drei ehemaligen Mi- litärpiloten. Etwa 30 Parabeln werden pro Flugtag absolviert, zwischen den Phasen der Schwerelosigkeit ist jeweils eine Mi- nute Pause. Die Passagiere genießen das Schweben im Flugzeug. Die Be- schwerden der Motion Sickness sind der Preis dafür. Aber: »Nach ein bis zwei Tagen ist alles wieder in Ordnung!« Forschung schwerelos Der Materialforscher Prof. Dr. Markus Rettenmayr (Foto oben) absolvierte im Sommer einen Parabelflug. Über die Faszination der Schwerelosigkeit und das Leiden im Dienste der Wissenschaft. TEXT: STEPHAN LAUDIEN Hinter den Kulissen Doktorand Robert Hanke (hier bei einem Flug 2016) blieb dieses Mal am Boden in Bordeaux und unterstützte das Team bei der Technik.
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