Lichtgedanken 03

Rubrik 47 03 | Lichtgedanken Das Kalenderblatt: Mythos Oktoberrevolution Vor gut einhundert Jahren – am 25. Oktober 1917 – übernahmen die Bolschewiki in Russland die Macht von der provisorischen Regierung. Der Handstreich im Winterpalais wurde zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution verklärt und später entsprechend bebildert. Ein Mythos, der sich bis in die heutige Zeit gehalten hat. listische Parteien marginalisiert werden – neben den Sozial- revolutionären vorrangig die Menschewiki –, die im Bürger- krieg besiegt worden waren. Der Mythos vom Sturm auf das Winterpalais war sehr wirk- mächtig und er fand seinen Weg bis in deutsche Schulbücher. In der DDR wurde die sowjetische Lesart übernommen, in der BRD fanden sich noch in den 1980er Jahren »Bilder« von der Oktoberrevolution, von der es keine Bilder gibt. Bis heute hel- fen sich Fernsehdokumentationen damit aus, die fehlenden Bilder durch Ausschnitte aus Filmen (vor allem dem von Ei- senstein) zu ersetzen. Nur wenige weisen dabei auf die Quelle hin. So lebt der Mythos von der Revolution munter fort. TEXT: STEPHAN LAUDIEN Der Schuss des Panzerkreuzers »Aurora« (zu deutsch »Mor- genröte«) gab das Signal zum Sturm auf das Winterpalais und läutete zugleich das neue Zeitalter des Kommunismus ein. Tausende Bolschewiki stürmten den verhassten Zarenpalast in Petrograd und errangen den Sieg, ein leuchtendes Fanal für die Arbeiter auf der ganzen Welt. Was für eine Geschichte! Doch leider ist sie falsch. »Die Okto- berrevolution war von Beginn an ein Mythos und wurde als solcher inszeniert«, sagt der Osteuropahistoriker Prof. Dr. Jörg Ganzenmüller von der Uni Jena. Schon der Begriff »Revoluti- on« sei nicht haltbar: Es gab 1917 keine revolutionären Massen auf den Straßen, sondern vielmehr eine konzertierte Aktion, in der die provisorische Regierung verhaftet und strategisch wichtige Punkte in Petrograd besetzt wurden. Jörg Ganzen- müller spricht von einem Staatsstreich. Dennoch lebt bis heu- te, 100 Jahre später, der Mythos von der Großen Oktoberre- volution fort. Schuld daran sind die Bilder des Ereignisses, besser gesagt die fehlenden Bilder. Eine Erhebung der Massen fand bereits im Februar 1917 statt. Ursache für die Revolution war eine Versorgungskrise des Russischen Reiches, ausgelöst durch den Ersten Weltkrieg. Nach dem Sturz des Zaren Nikolaus II. lag die Macht in den Händen der provisorischen Regierung, die sie sich jedoch mit den Arbeiter- und Soldatenräten teilen musste, den Sowjets. Die provisorische Regierung führte den unpopulären Krieg weiter, und so rissen Lenin und seine Bolschewiki die Macht an sich. Historische Aufnahmen zum großen Teil Fiktion »Die Bolschewiki hatten durchaus Rückhalt unter den Arbei- tern und Soldaten«, sagt Jörg Ganzenmüller. Bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung 1918 erzielten sie 25 Prozent. Bei der »Oktoberrevolution« waren die Massen je- doch nicht beteiligt. Später wurde das Ereignis indes entspre- chend inszeniert. Einerseits durch Inszenierungen am histori- schen Ort zu den Jahrestagen, vor allem aber durch den Film »Oktober« von Sergej Eisenstein aus dem Jahr 1927. Die Bil- der vom Ereignis, die wir bis heute im Kopf haben, stammen größtenteils aus diesem Film. Jörg Ganzenmüller konstatiert, die Bolschewiki haben der Nachwelt suggerieren wollen, dass die Massen auf ihrer Seite gewesen wären. Tatsächlich aber hatte die Mehrheit der Bevölkerung 1918 die Sozialrevoluti- onäre gewählt, Agrarsozialisten, die gerade bei den Bauern beliebt waren. »Es ging nach dem Sieg im Bürgerkrieg darum, die Bolschewiki als die revolutionäre Kraft darzustellen«, sagt Prof. Ganzenmüller. Zugleich sollten konkurrierende sozia- Die Büste zeigt Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Die von ihm angeführte »Oktoberrevolution« war eher ein Staatsstreich, von dem bis heute falsche Bilder kursieren.

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