Lichtgedanken 03
Rubrik 18 Wir Menschen sind wandelnde Lebens- räume, selbst in größter Einsamkeit sind wir niemals wirklich allein: Zusammen mit Billionen Mikroorganismen bilden wir ein hochkomplexes Ökosystem. Wir tragen Hunderte verschiedene Ar- ten von Bakterien, Pilzen und anderen Kleinstlebewesen mit uns herum, tei- len uns mit ihnen Nahrung und bieten uns gegenseitig Schutz. So hilft unsere Darmflora nicht nur bei der Verdauung. Sie ist – so zeigen immer mehr Studien ergebnisse – darüber hinaus an einer Vielzahl von Lebensprozessen betei- ligt: von der Immunabwehr über das Herz-Kreislauf-System bis hin zu unse- rer psychischen Verfassung. Einer der prominentesten »Mitbewoh- ner« des menschlichen Darms ist der Hefepilz Candida albicans . Auch wenn jeder Mensch über seine ganz eigene, individuell zusammengesetzte Mi- kroflora verfügt, so ist Candida albicans bei der Mehrheit der Bevölkerung nach- weisbar. Diese wenige Mikrometer gro- ßen Einzeller leben normalerweise als »kommensale« Organismen im Gleich- gewicht mit anderen Mikroorganismen, nicht nur im Darm, sondern auch in der Mundhöhle oder auf der Haut. »Unter bestimmten Umständen kann aus diesem eher unspektakulären Pilz jedoch ein wirklich lebensbedrohlicher Krankheitserreger werden«, sagt Prof. Dr. Ilse Jacobsen. Die Professorin für Mikrobielle Immunologie erforscht mit ihrem Team am Leibniz-Institut für Na- turstoff-Forschung und Infektionsbio- logie – Hans-Knöll-Institut (HKI), wie es zu einem solch drastischen Wandel kommt. Normalerweise leben die He- fezellen einzeln und sind von kugeliger Gestalt. Der Pilz ist aber auch in der Lage, in langen mehrzelligen Fäden – sogenannten Hyphen – zu wachsen. Mit diesen bis zu 100 Mikrometer langen »Fangarmen« kann Candida albicans die Zellen der Darmschleimhaut durchboh- ren und regelrechte Löcher in die Bar- riere reißen. »Auf diese Weise gelangen nicht nur der Pilz selbst, sondern möglicherweise auch andere Mikroorganismen in das umliegende Gewebe, können innere Or- gane infizieren und sich unter Umstän- den bis in den Blutstrom ausbreiten und so Infektionen überall im Körper ver- ursachen«, erläutert Ilse Jacobsen. Im schlimmsten Fall erleiden die Patienten eine Sepsis, eine systemische – den ge- samten Organismus betreffende – Ent- zündungsreaktion, die etwa ein Viertel von ihnen nicht überlebt (siehe S. 20). Was aber bewirkt diese dramatische Verwandlung? Wie kommt es dazu, dass Candida albicans aus der friedli- chen Gemeinschaft der Darmbevölke- rung ausbricht und sich derart gegen seinen Wirtsorganismus wendet? Ein Risikofaktor dafür ist paradoxerweise der Fortschritt der modernen Medizin. Denn systemische Pilzinfektionen tref- fen vor allem bereits schwerkranke Pati- enten. »Patienten auf Intensivstationen erhalten oft eine Antibiotikatherapie«, so Jacobsen. Damit würden jedoch nicht nur gezielt Keime zurückgedrängt, die eine bestimmte Krankheit verursachen. »Jede Antibiotikaeinnahme greift auch massiv in die mikrobiellen Lebensge- meinschaften des Patienten ein und stört deren natürliche Balance«, so die Mikrobiologin weiter. Zahlreiche Stu- dien belegen, dass vor allem Candida albicans und eine Reihe von Bakterien die Nutznießer dieser veränderten Ver- S C HW E R P U N K T »Dr. Jekyll and Mr. Hyde« in der Darmflora Wie aus harmlosen Mitbewohnern gefährliche Eindringlinge werden, untersuchen Prof. Dr. Ilse Jacobsen und ihr Team: Sie erforschen die Pathogenese von systemischen Pilzinfektionen. Fakultativ pathogene Darmbe- wohner wie Candida albicans und Proteus mirabilis helfen uns gemeinsam mit anderen Mikroorganismen bei der Verdrängung von Darmerregern und trainieren unser Immunsystem. Sie können aber auch lebensbedro- hende Infektionen bis hin zur Sepsis verursachen. Entscheidend für die Verwandlung von »Dr. Jekyll« zu »Mr. Hyde« in der Darmflora ist das Zusammenspiel der Mikroben im »Ökosystem Mensch«. TEXT: UTE SCHÖNFELDER Prof. Dr. Ilse Jacobsen leitet die Forschungsgruppe »Mikrobielle Immunologie« am Jenaer Leibniz-Insti- tut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie – Hans-Knöll-Institut (HKI) und ist Professorin für Mikrobielle Immunologie an der Universität Jena.
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