Lichtgedanken 02
S C HW E R P U N K T 19 02 | LICHT GEDANKEN kirchlichem Besitz. »Das Geld aus dem Gemeinen Kasten diente letztlich aber nur zum Teil der Armenfürsorge«, sagt Mandry. Wie Kassenbücher belegen, wurde bereits vor der Reformation an manchen Tagen in Weimar an bis zu 3000 Bedürftige Brot und Geld gespen- det. Die Gründe für die hohe Zahl von Armen sind vielfältig und nicht bis ins Detail zu ergründen. Festzuhalten ist je- doch, dass sich die Einstellung zu den Armen und der Armut änderte: Wäh- rend in der vorreformatorischen Zeit Al- mosen als gottgefällig angesehen wur- den, entstand allmählich so etwas wie ein Anspruch auf Grundversorgung. Damit einher gingen die Verwaltung der Bedürftigen und der Versuch, die Zahl der frei umherziehenden Bettler zu verringern. »Grundsätzlich entsprach es Luthers Weltbild, dass sich jedermann durch eigener Hände Arbeit ernähren können sollte«, sagt Julia Mandry. Eine Wunschvorstellung. Mit ihr verbunden ist die zunehmende Stigmatisierung der Armen und Bettelnden. Wie sah die Kirchenpolitik Johanns von Sachsen (1468–1532) aus? Dieser Frage widmete sich Doreen von Oertzen-Be- cker. Sie hat geklärt, welche eigenen Impulse Johann – später »der Bestän- dige« – in der kursächsischen Kirchen- politik setzte. Dabei merkt sie an, dass Johann in der Wahrnehmung lange zu Unrecht im Schatten seines Bruders und Mitregenten Friedrich des Weisen (1463–1525) stand. Sie hat erforscht, in welcher Art und Weise der Fürst Kon- takte zu Persönlichkeiten der Reforma- tion unterhielt und wie ihn diese beein- flussten und prägten. Analysiert wurde ferner, wie es gelang, religiös motivierte Konflikte zu lösen. »Die Reformation war auch eine Re- volution des Wissens«, sagt Uwe Schir- mer. Thüringen und Mitteldeutschland seien mit Recht »Pionierregionen der Gelehrsamkeit«. Doch keineswegs habe die Reformation den Bildungsschub ausgelöst: Bereits in den Jahrzehn- ten vor 1517 wies der mitteldeutsche Thüringer Kirche. Die Bergkirche St. Marien in Schleiz (siehe auch Titelfoto) geht auf das 12. Jahrhundert zurück. Nach Einführung der Reformation fand hier am 8. Juni 1533 der erste evangelische Gottesdienst statt. Wie sich das »Zeitalter der Reformen« in Thüringen konkret vollzog, das erforschen Jenaer Historiker derzeit akribisch in zahlreichen Archiven. Finanziell gefördert wird das Projekt »Thüringen im Zeitalter der Reformation« durch den Freistaat Thüringen, die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen sowie die Landesbank Hessen-Thüringen. Die Fördersumme für das Ende 2017 endende Projekt beträgt gut 560.000 Euro. Raum eine hohe Schuldichte auf. Zu- dem erlebte die Universität Erfurt um das Jahr 1300 eine Blütezeit. Später, als Erfurt eine Krise durchlebte, gelangten die Universitäten Leipzig und Jena zur Blüte. »Es gab offenbar das Bedürfnis nach höherer Schulbildung«, sagt Andreas Dietmann, der das Schulwesen Thürin- gens im 15. und 16. Jahrhundert er- forscht. Er konstatiert am Ende des Mittelalters in den Städten eine Vielzahl von Schultypen: lateinische Pfarr- und Ratsschulen, deutsche Schreib- und Rechenschule sowie kleine, private Winkelschulen. Die städtischen Schu- len offerierten ein Bildungsangebot für die Dorfbevölkerung. Dieses blühende System geriet durch die antiklerikalen Einflüsse in der frühen Reformations- zeit in Schieflage, es brach zusammen. »In den folgenden Jahren warb Luther durch Appelle an Städte und Bürger für schulische Bildung«, sagt Dietmann. So entstand ein neues, reformatorisch ge- prägtes Schulwesen, das wiederum zu beachtlicher Blüte gelangte. Es war eng an die neue Konfession gebunden und fand als Teil der sich entwickelnden Landeskirche Aufnahme in die Kirchen- ordnungen des 16. Jahrhunderts. An- dreas Dietmann geht davon aus, dass die Alphabetisierungsrate in den 1570er Jahren in der Region bei mindestens 50 Prozent gelegen hat. Woher kam dieser offensichtliche Hunger nach Bildung? Eine Rolle hat sicher die hohe Städte- dichte in Thüringen gespielt. Die dort etablierten Berufszweige verlangten nach gebildetem Personal. Alexander Krünes denkt zudem, es sei der äußerst kleinteilige Raum gewesen, der bis ins 19. Jahrhundert hinein zu Konkurrenz in Kultur und Bildung führte. Die in jener Zeit geschaffenen Grundla- gen sollten noch lange nachwirken: Dass etwa in Thüringen die Ideen der Aufklä- rung auf besonders fruchtbaren Boden stießen, lässt sich als direkte Folge dieser Bildungsoffensive deuten. Häufig wa- ren es Pfarrer, die als »Volksaufklärer« der Landbevölkerung fundiertes Wissen vermittelten. In Druckmedien (Bücher, Kalender, Zeitschriften) wurden The- men wie Garten- und Landbau, Medizin oder Tierhaltung behandelt. Später er- folgte eine rechtliche, sittlich-religiöse, kulturelle sowie politische Aufklärung des einfachen Volkes. »Wenn die Pfar- rer die Universitäten verließen, nahmen sie gewissermaßen einen Bildungsauf- trag mit in die Dörfer«, sagt Alexander Krünes. Dabei diente ab 1800 die Person Luthers als Musterbeispiel eines aufge- klärten Bürgers, war der Reformator ein Wegbereiter der Aufklärung. Es galt die Formel: Ohne Reformation keine Auf- klärung. Diese Luther- und Reforma- tionsrezeption wird ebenfalls erforscht. Martin Sladeczek widerlegt in seiner Arbeit die These eines speziellen Re- formationskirchenbaus. Zwar wurden nach 1530 verschiedene Kirchen umge- baut, doch vorrangig wegen des Bevöl- kerungsanstiegs. Erst später wird ein spezifisch protestantischer Kirchenbau etabliert. Zu seinen Merkmalen gehö- ren der Wegfall der Seitenaltäre und das veränderte Bild- und Inschriften- programm: »Die katholischen Heiligen verschwinden, antike Motive werden reduziert und protestantische Akteure wie Luther, Melanchthon und die örtli- chen Pfarrer werden als Lehrer des wah- ren Glaubens dargestellt«, so Sladeczek. An Luther führt kein Weg vorbei Die Forschungsergebnisse werden in einer eigenen Publikationsreihe veröf- fentlicht. Außerdem sind die Historiker in Thüringen unterwegs und stellen ihre Forschungen der Öffentlichkeit vor. Das Spannende dabei: Die Vorträge vermit- teln – abgestimmt auf den jeweiligen Vortragsort – Themen der lokalen Refor- mationsgeschichte. An Martin Luther kommen die Wissenschaftler dabei nicht vorbei. Doch der Reformator steht nicht singulär im Blickpunkt. Dafür ist die Geschichte im »Kernland der Refor- mation« einfach zu vielfältig.
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