Jahresbericht 2020-2021

Glaschemie (W3) Prof. Dr.-Ing. Lothar Wondraczek Forschungsschwerpunkte  Forschungsschwerpunkt des Lehrstuhles ist die Ableitung strukturchemischer Prinzipien in Gläsern und anderen nichtkristallinen Festkörpern, die thermokinetische Beschreibung von Strukturbildungsprozessen sowie die Entdeckung neuartiger Gläser mit angepassten optischen und mechanischen Eigenschaften.  Von besonderem Interesse sind derzeit Verfahren zur physikalischen Quantifizierung struktureller Unordnung und nicht-affiner Eigenschaften; Methoden zur Aufklärung lokaler Eigenschaften und Eigenschaftsfluktuationen sollen für die Anwendung außerhalb von Computermodellen weiterentwickelt werden.  Einen weiteren Schwerpunkt bilden alternative Fabrikationsverfahren für Gläser, beispielsweise durch Abscheidung aus Gas- und Lösungsphasen, Kollapsreaktionen, Ionenaustauschreaktionen, 3D-Druck oder Schmelzeverfahren unter Verwendung alternativer Wärmequellen.  In Kooperation mit zahlreichen nationalen und internationalen Industriepartnern erfolgen konkrete Materialentwicklungen bis hin zum Systemdesign, beispielsweise in den Bereichen funktioneller Fassaden- und Fensterelemente, hochfeste Glassubstrate, Dentalmaterialien sowie funktionale Lichtleiter. Die übergreifende Gemeinsamkeit aller Klassen glasartiger Materialien ist deren strukturelle Unordnung — von klassischen Oxidgläsern über metallische Gläser, Chalkogenide, molekulare und polymere Gläser bis hin zu neuartigen Hybriden aus organischen und anorganischen Komponenten. Physikalischen Modellen zur Quantifizierung komplexer (korrelierter) Unordnungszustände gelingt es derzeit noch nicht, reale, technologisch relevante Glassysteme abzubilden: im Vergleich zu kristallinen Materialien erschwert die Abwesenheit struktureller Periodizität Eigenschaftsvorhersagen grundlegend. Material- und skalenübergreifende Untersuchungen von Unordnungserscheinungen in realen Gläsern bilden daher ein zentrales Thema unserer Arbeiten. Mit Hilfe experimenteller Beobachtungen der Vibrationsdynamik und Zustandsdichte im THz-Bereich versuchen wir, Beziehungen zwischen lokalen und makroskopische (Transport-)Eigenschaften abzuleiten (Abb. 1). Derartige Erkenntnisse sollen dabei helfen, Unordnungsdeskriptoren für zukünftige Modelle zur chemischen Formulierung von Gläsern zu finden [1,2]. Zukünftig Eingang finden könnten solche Deskriptoren zum Beispiel in Verfahren zur Beschleunigten Vorhersage von Eigenschaftsprofilen sowie zur informierten Hochdurchsatzsynthese neuer Gläser (Projekt GlasDigital als Teil der BMBF-Plattform MaterialDigital). Entsprechende Kombinationen aus ML- und Hochdurchsatzsynthese setzen wir derzeit auch für die Suche nach neuen Recyclingwegen für glasbildende Abfälle in sogenannten „künstlichen Mineralen“ ein (DFG SPP 2315) oder für das Design heterostruktureller Kontakte (DFG SPP 2289). [1] Pan, Z. et al. (2021): Disorder classification of the vibrational spectra of modern glasses. Phys. Rev. B, 104, 134106. DOI: 10.1103/PhysRevB.104.134106. [2] Wondraczek, L (2022): Locality resolved. Nature Physics, DOI: 10.1038/ s41567-022-01636-6. Abb. 1. Elastische Heterogenität in unterschiedlichen Glastypen. Die lokale Fluktuation elastischer Konstanten führt zu nicht-affinem Deformationsverhalten; Unordnung lässt sich anhand der zugrundeliegenden Korrelationslänge sowie der Abweichung zwischen dem lokalen Mittelwert und der makroskopischen Beobachtung einer Eigenschaft (hier: Schermodul) beschreiben. 114 — FORSCHUNG

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